Die Nadel.
einePhotographie des Commanders als Junge an Bord von HMS Winchester .
»Sehen Sie sich das an«, sagte der Commander, ohne sich
umzudrehen. »Warum ist der Bursche nicht in der Marine?«
Bloggs ging hinüber zum
Fenster. Ein von einem Pferd gezogener Bäckerwagen stand am Bordstein vor dem Haus; das
alte Pferd steckte den Kopf in seinen Futterbeutel, während die Ware ausgeliefert
wurde. Der »Bursche« war eine Frau mit kurzem blonden Haar, die eine Hose trug. Sie hatte
einen prächtigen Busen. Bloggs lachte. »Es ist eine Frau in Hosen«, sagte er.
»Du meine Güte, Sie haben recht!« Der Commander drehte sich um. »Heutzutage kann man
nie wissen. Frauen in Hosen!«
Bloggs stellte sich vor. »Wir untersuchen erneut
einen Mord, der hier 1940 begangen wurde. Wie ich höre, haben Sie damals zur selben Zeit
wie der Hauptverdächtige, ein gewisser Henry Faber, hier gewohnt.«
»Stimmt! Was
kann ich für Sie tun?«
»Wie gut entsinnen Sie sich an Faber?«
»Sehr
gut. Ein hochgewachsener Bursche, dunkles Haar, höflich, ruhig. Ziemlich schäbige
Kleidung – wenn man ihn nur nach dem Äußeren beurteilte, konnte man sich leicht
irren. Ich hatte nichts gegen ihn – hätte ihn gern besser kennengelernt, aber das wollte
er nicht. Er muß in Ihrem Alter gewesen sein.«
Bloggs unterdrückte ein
Lächeln. Er war daran gewöhnt, daß man ihn für älter hielt, einfach weil er
Kriminalbeamter war.
Der Commander fuhr fort: »Ich bin sicher, daß er es nicht
getan hat. Ich verstehe etwas von menschlichen Charakteren – als Schiffskommandant lernt
man das –, und wenn der Mann ein Sexualverbrecher war, bin ich Hermann Göring.«
Bloggs stellte plötzlich einen Zusammenhang zwischen der Blondine in Hosen und der
falschen Einschätzung seines Alters her. Die Schlußfolgerung deprimierte ihn. »Wissen
Sie, Sie sollten von einem Polizisten immer seinen Ausweis verlangen.«
Der
Commander war ein wenig verblüfft. »Also gut, zeigen Sie ihn mir.«
Bloggs öffnete seine Brieftasche und klappte sie um, so daß Christines
Bild zu sehen war. »Hier.«
Der Commander musterte es einen Moment lang, dann sagte
er: »Sehr gut getroffen.«
Bloggs seufzte. Der alte Mann war fast blind.
Er
stand auf. »Das ist im Augenblick alles. Vielen Dank.«
»Immer zu
Diensten. Möchte helfen, so gut ich kann. Heute bin ich nicht mehr viel für England wert
– man muß schon ein ziemlich hoffnungsloser Fall sein, wenn man nicht einmal mehr für
die Bürgerwehr tauglich ist.«
»Auf Wiedersehen.« Bloggs ging hinaus.
Die
Frau stand unten im Flur. Sie übergab Bloggs einen Brief. »Die Adresse ist ein Postfach
der Streitkräfte. Sie werden leicht herausfinden können, wo es ist.«
»Sie
wußten, daß mir der Commander nicht helfen kann.«
»Ich habe es mir gedacht. Aber
er ist dankbar für jeden Besucher.« Sie öffnete die Tür.
Bloggs gab einem
inneren Drang nach. »Darf ich Sie zum Essen einladen?«
Ein Schatten glitt über
ihr Gesicht. »Mein Mann ist immer noch auf der Insel Man.«
»Entschuldigen Sie –
ich dachte – «
»Keine Ursache. Ich fühle mich trotzdem geschmeichelt.«
»Ich wollte Sie überzeugen, daß wir nicht die Gestapo sind.«
»Das weiß
ich. Eine Frau, die einsam ist, wird leicht verbittert.«
»Ich habe meine Frau bei
einem Bombenangriff verloren.«
»Dann wissen Sie, wie einen der Haß
überwältigt.«
»Ja«, sagte Bloggs. »Das erfüllt einen mit Haß.« Er schritt
die Stufen hinab. Die Tür schloß sich hinter ihm. Es hatte zu regnen angefangen.
An jenem Tag hatte es auch geregnet. Bloggs war spät dran. Er hatte sich
mit Godliman neue Unterlagen angesehen. Jetzt beeilte er sich, denn er wollte noch eine halbe
Stunde mit Christinezusammensein, bevor ihr Dienst im Krankenwagen
begann. Es war dunkel, und der Fliegerangriff hatte schon begonnen. Das, was Christine nachts
sah, war so schrecklich, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr darüber sprach.
Bloggs
war stolz auf sie, sehr stolz. Die Leute, die mit ihr zusammenarbeiteten, sagten, sie ersetze
mindestens zwei Männer: Sie raste durch das verdunkelte London wie ein erfahrener Chauffeur,
fegte auf zwei Rädern um die Straßenecken, pfiff vor sich hin und machte Witze, während die
Stadt um sie herum in Flammen aufging. »Die Furchtlose« nannte man sie. Bloggs allerdings
wußte es besser: Sie hatte schreckliche Angst, wollte sich aber nichts anmerken lassen.
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