Die nächste Begegnung
verstaut die Kuben mit ihren Französisch- und Englisch-Lektionen. Nai hatte geplant, den Lehrstoff für das bevorstehende Schuljahr vorzubereiten, denn sie war entschlossen, als Sprachlehrerin an der Highschool energischer und interessanter zu werden.
Ehe sie sich an die Umorganisation ihres Stoffplanes begab, hatte sie an jenem schicksalhaften Tag jedoch die Tageszeitung aus Chiang Mai gelesen. Sie schob den Kubus in ihr Lesegerät und überflog hastig die Seiten. Sie las dabei kaum mehr als die Überschriften. Aber auf der letzten Seite stand eine Notiz — englisch geschrieben —, die ihre Aufmerksamkeit fesselte.
ARZT/ÄRZTIN * KRANKENPFLEGER/IN * LEHRER/IN
LANDSCHAFTSGÄRTNER/ IN
Bist du abenteuerlustig, mehrsprachig, gesund?
Die International Space Agency (ISA) stellt ein großes Expeditionskorps zusammen, das den Mars neu-kolonisieren wird. Gesucht werden überdurchschnittliche Personen mit den oben genannten Voraussetzungen und Fähigkeiten für einen Fünfjahreskontrakt in der Kolonie. Vorstellungsgespräche finden in Chiang Mai am Montag, 23-08-2244 statt. Besoldung und Zulagen sind außergewöhnlich. Antragsformulare können bei Thai Telemail #462-62-4930 angefordert werden.
Als Nai ihre Bewerbung an die ISA einsandte, hatte sie ihre Chancen nicht gerade für besonders hoch gehalten. Sie war praktisch sicher, dass sie bereits bei den Vorentscheidungen rausfliegen würde und demzufolge nicht einmal zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch gebeten werden würde. Sie war deshalb wirklich sehr überrascht, als sie sechs Wochen darauf in ihrem elektronischen Briefkasten eine Notiz fand, dass sie proviso ri sch in die Schar der engeren Bewerber für eine persönliche Besprechung aufgerückt sei. Sie wurde gleichfalls informiert, das Verfahren sehe vor, dass sie alle persönlichen potentiellen Fragen zuvor brieflich einreiche, ehe sie zu dem Gespräch erscheine. Seitens der ISA wurde betont, man beabsichtige, nur jene Kandidaten zu einer Besprechung zu bitten, die ausdrücklich kontaktbereit wären, sollte ihnen eine Aufgabe in der Marskolonie angeboten werden.
Nai antwortete über Telemail mit einer einzigen Frage. War es möglich, einen beträchtlichen Prozentsatz ihrer Einkünfte während der Vertragszeit auf dem Mars auf ein Konto bei einer irdischen Bank zu überweisen? Und sie fügte hinzu, dies sei eine wesentliche Voraussetzung für sie.
Zehn Tage später traf eine weitere Elektroniknachricht bei ihr ein. Sehr knapp, Ja, hieß es da, Teilsummen ihrer Einkünfte könnten regelmäßig auf die Erde transferiert werden. Jedoch, hieß es weiter, müsse sie sich absolut und endgültig über die Aufteilung ihrer Gelder festlegen — sobald der/die Kolonist/-in die Erde verlassen habe, sei leider eine Änderung des Splittingverfahrens nicht mehr möglich.
Da die Lebenshaltungskosten in Lamphun niedrig waren, bedeutete das von der ISA gebotene Sprachenlehrergehalt in der Marskolonie beinahe das Doppelte der Summe, die Nai benötigte, um allen ihren Verpflichtungen für die Familie nachzukommen. So jung sie war, sie trug eine schwere Bürde an Verantwortung, denn sie war in der fünfköpfigen Familie die Alleinverdienerin für den invaliden Vater, die Mutter und die zwei jüngeren Schwestern und sich selbst.
Ihre Kindheit war schwer gewesen, aber die Familie hatte sich stets knapp über der Armutsgrenze durchbringen können. Aber als Nai in ihr letztes Jahr an der Universität ging, war die Katastrophe hereingebrochen. Zuerst erlitt der Vater einen Schlaganfall, der ihn zum Invaliden machte. Sodann hatte ihre Mutter, die nicht über den geringsten Geschäftssinn verfügte, alle Ratschläge der Familie und Freunde in den Wind geschlagen und versucht, den kleinen handwerklichen Familienbetrieb allein zu führen. Ein Jahr darauf hatte die Familie alles verloren, und Nai war gezwungen gewesen, nicht nur ihre persönlichen Ersparnisse für Nahrung und Kleidung für die Familie aufzubrauchen, sondern sie hatte auch ihren Traum aufgeben müssen, als literarische Übersetzerin für eines der großen Verlagshäuser in Bangkok zu arbeiten.
In der Woche unterrichtete sie in der Schule, an den Wochenenden arbeitete sie als Fremdenführerin. An dem Samstag vor dem Gespräch bei der ISA hatte Nai eine Touristengruppe auf einer Tour in Chiang Mai, dreißig Kilometer von ihrem Heimatort entfernt, zu führen. In der Gruppe gab es mehrere Japaner, und einer davon war ein hübscher und höflicher junger Mann Anfang
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