Die nächste Begegnung
dreißig, der ein akzentfreies Englisch sprach. Er hieß Kenji Watanabe. Er hörte ganz genau auf jedes Wort, das Nai sagte, fragte immer — und immer intelligent — und war ausgesprochen wohlerzogen.
Als Abschluss der Führung durch die heiligen Stätten des Buddhismus im Chiang-Mai-Bezirk fuhr die Gruppe mit der Seilbahn auf den Berg Doi Suthep, um den berühmten buddhistischen Tempel auf dem Gipfel zu besichtigen. Fast alle übrigen der Gruppe waren von den Anstrengungen des Tages erschöpft. Nicht so Kenji Watanabe. Zuerst bestand der Mann darauf, die lange Drachentreppe hinaufzusteigen — als wäre er ein buddhistischer Pilger —, anstatt an der Endstation der Seilbahn in die Funikularbahn umzusteigen und bis zum Gipfel zu fahren. Und als Nai die Legende der Tempelgründung erzählte, stellte er Fragen um Fragen. Und schließlich, als Nai nach der Talfahrt allein in dem bezaubernden Restaurant am Fuß des Berges ihren Tee trank, trennte Kenji sich von dem Touristenhaufen in den Souvenirläden und kam an ihren Tisch.
»Kao tode krap?«, fragte er in akzentfreiem Thai zur Verblüffung von Fräulein Buatong, »darf ich mich zu dir setzen? Ich habe noch einige Fragen.«
»Khun pode pasa thai dai mai ka?«, fragte Nai, noch immer verwirrt.
»Pohm kao jai pasa thai dai nitnoy«, antwortete er, er verstehe ein wenig Thai. »Und du? Anata wa nihon go hanshimasu ka?«
Nai schüttelte den Kopf. »Nihon go hanashimasen«, antwortete sie lächelnd. »Nur Englisch, Französisch und Thai. Obwohl ich manchmal einfaches Japanisch verstehe, wenn es sehr langsam gesprochen wird.«
»Ich war fasziniert«, sagte Kenji englisch, nachdem er ihr gegenüber Platz genommen hatte, »von den Wandgemälden der Tempelgründung auf dem Doi Suthep. Eine wunderbare Legende — eine Mischung aus Geschichte und Mystizismus —, aber mich als Historiker interessiert zweierlei. Erstens, wäre es nicht möglich, dass diese verehrungswürdigen Mönche aus Sri Lanka nicht durch irgendwelche religiöse Quellen außerhalb des Königsreichs von Lanna gewusst haben, dass es in der nahe gelegenen verlassenen Pagode eine Reliquie des Buddha gab? Denn mir erschiene es als unwahrscheinlich, dass er sonst seine Reputation aufs Spiel gesetzt hätte. Zweitens kommt es mir zu perfekt vor — zu sehr, als imitierte das Leben die Kunst, dass jener weiße Elefant, der die Reliquie trug, zufällig den Doi Suthep erklommen haben soll, um dann seine Seele auszuhauchen, sobald er auf dem Gipfel angekommen war. Gibt es irgendwelche außer-buddhistische historische Quellen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die diese Legende bestätigen?«
Nai starrte sekundenlang den wissbegierigen Mr Watanabe an, ehe sie antwortete. »Sir«, sagte sie mit einem zarten Lächeln, »in den zwei Jahren, in denen ich Führungen zu den buddhistischen Stätten in dieser Gegend mache, hat niemand mir je eine dieser Fragen gestellt. Ich bin gewiss außerstande, sie zu beantworten, doch wenn du wünschst, gebe ich dir Namen und Anschrift eines Professors an der Chiang-MaiUniversität, der in der buddhistischen Geschichte des Königreichs Lanna äußerst versiert ist. Er ist Experte für diese ganze Periode von König Mengrai an .. .
Sie wurden in ihrem Gespräch unterbrochen durch die Lautsprecherankündigung, die Seilkabine stehe jetzt für die Passagiere zur Rückfahrt in die Stadt bereit. Nai erhob sich und entschuldigte sich bei Kenji, der sich wieder zu seiner Gruppe begab. Nai blickte ihm nach. Die Intensität seiner Augen würde ihr unvergesslich bleiben. Unglaubliche Augen, dachte sie. Nie habe ich jemals derart klare Augen gesehen, so voller Wissbegier.
Aber sie sah diese Augen wieder — am darauffolgenden Montag, am Nachmittag, als sie sich zu ihrem Vorstellungsgespräch mit den ISA-Beamten ins Dusit-Thani-Hotel in Chiang Mai begab. Zu ihrer Verblüffung sah sie sich Kenji gegenüber, und an seinem Hemd prangte das ISA-Abzeichen. Zunächst war Nai bestürzt. »Ich habe mir deine Unterlagen erst am Samstag vorgenommen«, sagte Kenji als Entschuldigung. »Das versichere ich dir. Hätte ich gewusst, dass du eine der Bewerberinnen bist, ich hätte mir eine andere Besichtigungstour ausgesucht.«
Dann verlief das Gespräch jedoch ganz glatt. Kenji äußerte sich höchst lobend sowohl über Nais hervorragende akademische Leistungen als auch über ihre Freiwilligendienste in Waisenhäusern in Lamphun und Chiang Mai. Und Nai gab ehrlich zu, dass sie nicht >schon immer< ein
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