Die nächste Begegnung
>unüberwindliches Verlangen< gehabt habe, in den Weltraum zu reisen, doch sei sie im Grunde >von Natur aus abenteuerlustige<, und die Position bei der ISA würde es ihr außerdem erlauben, den familiären Verpflichtungen nachzukommen, also habe sie sich für die Marsarbeit bewerben wollen.
Dann trat eine Pause ein. »Ist das alles?«, fragte Nai höflich und erhob sich.
»Oh, noch eine Sache, vielleicht.« Kenji Watanabe wirkte plötzlich verlegen. »Das heißt, wenn du ein bisschen was von Traumdeutung verstehst ...«
Nai setzte sich wieder. »Erzähle«, sagte sie lächelnd.
Kenji holte tief Luft. »In der Nacht zum Samstag träumte ich, ich sei im Dschungel, irgendwo nahe dem Fuß des Doi Suthep ... ich wusste, wo ich war, denn ich konnte im Oberbereich meines Traumbildes den goldenen Chedi sehen. Ich stürzte durch den Urwald, suchte nach meinem Weg, als ich auf einen riesigen Python stieß, der auf einem dicken Ast in Höhe meines Kopfes lag. — >Wohin gehst du?<, fragte mich der Python. >Ich suche meine Freundin<, antwortete ich. — >Sie ist oben auf der Spitze des Berges<, sagte der Python. — Ich kam aus dem Dschungel heraus und in die helle Sonne, und ich blickte zum Gipfel des Doi Suthep hinauf. Dort stand die Geliebte meiner Kindheit, Keiko Murosawa, und winkte zu mir herunter. Ich wandte mich um und sah wieder den Python an. — >Schau noch einmal hin<, sagte er. — Und als ich zum zweiten Mal den Berg hinaufblickte, hatte die Frau ein anderes Gesicht. Es war nicht mehr Keiko ... jetzt winktest du mir von der Spitze des Doi Suthep zu.«
Kenji schwieg sekundenlang. »Ich hatte noch nie einen derart ungewöhnlichen und lebhaften Traum. Ich dachte, vielleicht ...«
Nai hatte Gänsehaut an den Armen bekommen, während Kenji seinen Traum erzählte. Und sie hatte gewusst, wie er enden würde — dass nämlich sie, Nai Buatong, die Frau war, die von der Bergspitze herabwinkte. Sie beugte sich auf dem Stuhl nach vorn. »Mister Watanabe«, sagte sie bedachtsam, »ich hoffe, dass das, was ich dir sagen muss, dich nicht irgendwie beleidigt...«
Nai schwieg wieder sekundenlang. »Es gibt bei uns in Thailand ein berühmtes Sprichwort«, sagte sie schließlich und wich dabei seinem Blick bewusst aus, »und das besagt, wenn dir im Traum eine Schlange erscheint und zu dir spricht, dann hast du den Mann oder die Frau getroffen, mit dem oder der du dich verbinden willst.«
Und sechs Wochen darauf erinnerte sich Nai, erhielt ich die Benachrichtigung. Sie saß noch immer im Hof des Tempels der Königin Chamatevi in Lamphun. Und das Paket mit den Unterlagen von der ISA kam drei Tage danach. Gleichzeitig mit den Blumen von Kenji.
Kenji selbst war am darauffolgenden Wochenende in Lamphun erschienen. »Verzeih, dass ich nicht angerufen habe oder so«, entschuldigte er sich, »aber es wäre einfach sinnlos gewesen, unsere Beziehung fortzusetzen, wenn du nicht auch mit zum Mars gehst.«
Am Sonntagnachmittag schlug er ihr vor zu heiraten, und Nai war rasch einverstanden. Die Vermählung fand drei Monate später in Kyoto statt. Der Watanabe-Clan hatte großzügig Nais zwei Schwestern und drei weiteren Thai-Freunden die Reise nach Japan bezahlt, damit sie bei der Zeremonie dabei sein konnten. Ihre Mutter hatte, leider, nicht kommen können, da sonst niemand da war, der Nais Vater hätte versorgen können.
Nachdem sie die jüngsten Veränderungen in ihrem Leben sorgsam durchdacht hatte, fühlte Nai sich endlich bereit für ihre Meditation. Eine halbe Stunde später war sie ganz gelöst und sah glücklich und erwartungsvoll dem unbekannten vor ihr liegenden Lebensabschnitt entgegen. Die Sonne war inzwischen heraufgestiegen, und im Tempelgelände hielten sich auch andere Menschen auf. Langsam umschritt sie den Tempel. Sie wollte die letzten Augenblicke in ihrem Heimatdorf möglichst genießen.
Im Haupt-Viharn — nach einer Opferspende und dem Entzünden von Räucherstäbchen am Altar — betrachtete Nai eingehend jedes Paneel der Wandgemälde, die sie schon so oft gesehen hatte. Darauf war die Lebensgeschichte der Königin Chamatevi dargestellt, der einen und einzigen Idolgestalt, die Nai seit ihrer Kindheit verehrt hatte. Im siebten Jahrhundert besaßen die zahlreichen Stämme im Lamphun-Distrikt unterschiedliche Kulturen und lagen oft gegeneinander im Krieg. Das Einzige ihnen allen in jener Epoche Gemeinsame war eine Legende, ein Mythos, demzufolge von Süden eine junge Königin erscheinen werde, >getragen von
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