Die nächste Begegnung
Bester hervorgegangen war.
Was Kenji vergessen hatte, bis ihm die Fotos nun dies wieder in Erinnerung brachten, war, dass Toshio Nakamura, der Sohn des engsten Freundes und Geschäftspartners seines Vaters, in beiden Wettbewerben als Zweitbester abgeschnitten hatte. Auf beiden Fotos hatte der junge Nakamura, der fast einen Kopf größer war als Kenji, ein zornig verkrampftes Gesicht.
Aber das war ja lange, bevor er in all diese Schwierigkeiten geriet, dachte Kenji. Er erinnerte sich an eine Schlagzeile: >Spitzen manager in Osaka verhaftete ! < Das war vor vier Jahren gewesen. Es ging um die Anklage gegen Toshio Nakamura, damals bereits einer der Vize-Direktoren der Hotelgruppe Tomozawa, der sehr schwerer Verbrechen beschuldigt wurde, von Bestechung über Kuppelei und Dealing bis zu Menschenhandel und Sklaverei. Vier Monate später war Nakamura schuldig gesprochen und zu mehreren Jahren Haftstrafe verurteilt. Kenji war damals sehr erstaunt gewesen.
Was ist bloß mit Nakamura passiert?, hatte er sich in den verflossenen vier Jahren mehrfach gefragt.
Die Erinnerung an den Rivalen aus seiner Jugend löste in Kenji ein starkes Gefühl des Mitleids für Keiko Murosawa aus, Nakamuras Frau, für die Kenji selbst als Sechzehnjähriger in Kyoto eine besonders starke Zuneigung empfunden hatte. Tatsächlich hatten Kenji und Toshio Nakamura ein ganzes Jahr lang rivalisierend um Keikos Liebe gebuhlt. Und als Keiko schließlich zu verstehen gab, dass sie Kenji bevorzuge, hatte der junge Nakamura vor Wut geschäumt. Er hatte sogar eines Morgens Kenji gestellt — beim Ryoanji-Tempel noch dazu! — und ihn körperlich bedroht.
Ich hätte Keiko auch heiraten können, dachte Kenji, wenn ich in Japan geblieben wäre. Er schaute durchs Fenster auf den Moosgarten hinaus. Es fiel Regen. Und plötzlich tauchte in ihm eine besonders scharfe Erinnerung aus seiner Jugend an einen Regentag auf.
Er lief zu Keikos Haus, sobald sein Vater ihm die Neuigkeit eröffnet hatte. Als er auf den Pfad einbog, der zum Haus führte, drangen die Töne eines Chopinkonzerts an sein Ohr. Frau Murosawa kam persönlich an die Tür und eröffnete ihm streng: »Keiko übt gerade. Es dauert noch mindestens eine Stunde.«
»Bitte, Murosawa-san«, sagte der sechzehnjährige junge Mann, »es ist äußerst wichtig!«
Ihre Mutter wollte gerade die Tür zuschieben, als Keiko selbst Kenji durch das Fenster erblickte. Sie brach ihr Spiel ab und kam heraus. Ihr strahlendes Lächeln ließ eine glühende Woge der Freude durch seinen Leib schießen. »He, Kenji«, sagte sie. »Was gibs s denn?«
»Es ist was sehr Wichtiges«, erwiderte er geheimnisvoll. »Kannst du ein Stück mit mir gehen?«
Frau Murosawa murrte etwas über das bevorstehende Konzert, doch Keiko gelang es, ihre Mutter zu überzeugen, dass sie es sich leisten könne, einmal die Übungen ausfallen zu lassen. Sie holte sich einen Regenschirm und kam dann zu Kenji, der vor dem Haus wartete. Sobald sie außer Sichtweite waren, schob sie ihm den Arm unter, wie sie das stets tat, wenn sie zusammen irgendwohin gingen.
»Also, mein Freund«, sagte Keiko, während sie ihren gewohnten Weg gingen, hinauf in die Hügel hinter ihrem Kyotoer Viertel. » Was ist so äußerst wichtig?«
»Ich will es dir jetzt noch nicht sagen«, antwortete Kenji. »Nicht hier jedenfalls. Ich will warten, bis wir am richtigen Ort sind.«
Sie lachten und plauderten über alles Mögliche, während sie dem >Philosophenweg< zustrebten, einem wunderschönen schmalen Weg, der sich mehrere Kilometer lang an den Osthügeln entlangschmiegte. Berühmt gemacht hatte diesen Pfad ein Philosoph aus dem zwanzigsten Jahrhundert namens Nishida Kitaro, der angeblich jeden Morgen hier spazieren ging. Der Weg führte an einigen der allerberühmtesten landschaftlichen Sehenswürdigkeiten Kyotos vorbei, so auch am Ginkakuji, dem >Silberpavillon<, und an Kenjis persönlichem Lieblingsplatz, dem alten buddhistischen Tempel Honen- In.
Seitlich und hinter dem Tempel lag ein kleiner Friedhof mit etwa siebzig oder achtzig Grabstätten und Gedenksteinen. Als sie früher in diesem Jahr zu zweit umhergewandert waren, hatten Kenji und Keiko entdeckt, dass auf diesem Platz die irdischen Reste von einigen der berühmtesten Bürger Kyotos im zwanzigsten Jahrhundert ruhten, darunter der hochgefeierte Romancier Junichiro Tanizaki und des Doktor-Poeten Iwao Matsuo. Danach erwählten Kenji und Keiko diesen Friedhof zum Ort ihrer regelmäßigen Begegnungen. Einmal, als
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