Die nächste Begegnung
sie beide DIE SCHWESTERN MAKIOKA gelesen hatten, kabbelten sie sich unter lautem Lachen über eine Stunde lang am Grab des Autors (Tanizaki beschreibt in diesem Meisterwerk das Leben in Osaka in den 1930er Jahren) darüber, welcher der Makioka-Schwestern Keiko am ähnlichsten sei.
An dem Tag, an dem sein Vater Kenji davon unterrichtete, dass die Familie in die USA gehen werde, regnete es bereits kräftig, als Kenji und Keiko den Honen-In erreichten. Kenji bog rechts ab auf einen schmalen Pfad und auf eine alte Pforte mit geflochtenem Strohdach zu. Wie Keiko erwartet hatte, betraten sie den Tempel nicht, sondern stiegen die Stufen zum Friedhof hinauf. Aber Kenji blieb diesmal auch nicht an Tanizakis Grabmal stehen, sondern kletterte höher, zu einer anderen Grabstätte hinauf.
»Hier liegt Dr. Iwao Matsuo«, sagte er und holte sein elektronisches Notizbuch hervor. »Wir wollen ein paar von seinen Gedichten lesen.«
Keiko setzte sich eng neben ihren Freund, beide geschützt vor dem dünner gewordenen Regen unter Keikos Schirm, und las drei Gedichte vor. »Aber ich habe noch ein letztes«, sagte er danach, »ein ganz besonderes Haiku, das ein Freund von Dr. Matsuo verfasst hat:
Ein Tag im Juni-Mond
Nach einer Schale frischen Eises
Wir sagten uns — Lebwohl,
Nachdem Kenji das Haiku noch einmal auswendig rezitiert hatte, schwiegen beide lange. Als Kenjis erster Gesichtsausdruck sich nicht veränderte, ge ri et Keiko in leise Panik, ja, sie fürchtete sich beinahe. »In dem Gedicht geht es um Abschied«, sagte sie leise. »Willst du mir sagen, dass .. .
»Nicht ich will es, Keiko«, unterbrach Kenji. Dann, nach einer Pause: »Mein Vater wurde in die USA versetzt. Wir gehen im nächsten Monat.«
Nie zuvor hatte Kenji in dem schönen Gesicht Keikos einen Ausdruck derart tiefer Verlorenheit gesehen. Und als sie den Blick hob und ihn mit diesen schrecklichen, trauerschwangeren Augen ansah, glaubte er fast, das Herz müsste ihm zerspringen. Er drückte sie fest an sich, damals an jenem verregneten Nachmittag, und beide weinten, und er schwor ihr seine ewige, unverbrüchliche, ausschließliche Liebe.
4
Die jüngere Bedienerin, die in dem hellblauen Kimono und dem traditionellen altmodischen Obi, schob die Gleittür auf und kam mit einem Tablett, auf dem Bier und Sake standen, in den Raum.
»Osake ortegai shimasu«, sagte Kenjis Vater höflich und hob der Dame seinen Sakebecher zum Einschenken entgegen.
Kenji trank einen Schluck von seinem frischen kalten Bier. Dann kehrte auch die ältere Bedienerin lautlos zurück und brachte einen kleinen Teller mit Vorspeisen. In der Mitte lagen in einer hellen Soße irgendwelche Muscheltiere, aber Kenji hätte weder die Mollusken noch die Soße benennen können. In den siebzehn Jahren seit seinem Abschied von Kyoto hatte er kaum öfter als fünf-, sechsmal an einem derartigen Kaiseki-Mahl teilgenommen.
»Kampai!«, sagte Kenji und stieß mit seinem Bierglas gegen die Sake-Schale seines Vaters. »Ich danke dir, Papa. Es ist mir eine Ehre, mit dir hier in diesem Haus zu speisen.«
Das Kicho galt als das berühmteste Restaurant in Kansai, ja vielleicht in ganz Japan. Und es war erschreckend teuer, denn es bewahrte eine unerbittliche Tradition: persönliche Bedienung, private Räumlichkeiten und jahreszeitlich bedingte Speisen von ausschließlich allerbesten Zutaten. Jedes Gericht war eine Wonne nicht nur für den Gaumen, sondern auch für das Auge. Als Watanabe senior seinem Sohn eröffnete, er wolle ganz allein mit ihm speisen, wäre es Kenji nie in den Sinn gekommen, dass er sich dafür das Kicho wählen würde.
Sie hatten zuvor über die Mars-Expedition gesprochen. »Wie viele Japaner sind unter den Kolonisten?«, fragte Watanabe senior seinen Sohn.
»Doch etliche«, erwiderte Kenji. »Fast dreihundert, wenn ich mich recht erinnere. Es gab zahlreiche Spitzenkandidaten aus Japan. Nur die USA haben ein höheres Kontingent.«
»Und—kennst du irgendwen der anderen aus Japan persönlich?«
»Doch, zwei oder drei. Yasuko Horikawa war mal für eine Weile in meiner Klasse in der Kyoto Junior Highschool. Vielleicht erinnerst du dich an sie. Sehr, sehr gescheit, prognathisches Gebiss, dicke Brillengläser. Sie ist — oder ich sollte wohl sagen, war— Chemikerin bei der Dai-Nippon.«
Watanabe senior lächelte. »Ich denke, ich kann mich an sie erinnern. War sie nicht an dem Abend bei uns im Haus, als Keiko auf dem Klavier spielte?«
»Doch, ja, ich glaub schon«, erwiderte
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