Die nächste Begegnung
oder einem Laster überrollt worden wäre. Die beiden andren Myrmikatzen schleppten den Verletzten in das Gewebe herein und verschwanden danach wieder. Sekunden später bereits wickelte sich das Geflecht um den Neuzugang.
Richard war etwa zwei Meter von der verletzten Myrmikatze entfernt. In dem Bereich zwischen ihnen beiden zogen sich alle Gewebe und Knoten zurück. Noch nie hatte Richard vorher im Gewebe eine solch große Lücke klaffen sehen. Also geht meine Erziehung weiter, überlegte er. Und was soll ich diesmal begreifen ?—Dass die Geflechtwesen so was wie Ärzte und Heiler fürMyrmikatzen sind, genau wie die Myrmikatzen bei den Avianern?
Das Geflecht beschränkte seine Fürsorge nicht auf die verletzten Teile der Myrmikatze. Während einer ausgedehnten Wachperiode konnte Richard beobachten, wie die Fasern das Geschöpf völlig mit einem dichten Kokon umhüllten, während gleichzeitig das große Ganglion aus Richards Nähe zu diesem Kokon hinüberwanderte.
Nach einer kurzen Schlafpause bemerkte er, dass das große Ganglion inzwischen wieder neben ihn gerückt war. Und der Kokon jenseits der Lücke hatte sich nahezu völlig aufgelöst. Und Richards Pulsschlag verdoppelte sich, als die Hülle ganz verschwand und — keine Spur von der Myrmikatze mehr zu sehen war!
Ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln, was mit dem verletzten Geschöpf geschehen sein mochte. Minuten später hatten sich die Fasern des großen Ganglions erneut um seinen Schädel gelegt, und in seinem Gehirn lief eine weitere Bilder-Show ab. Im ersten Bild sah er fünf Menschen, offenbar Soldaten, am Ufer des Ringgrabens im Avianer-Habitat kampieren. Sie aßen gerade. Um sie herum lag ein beeindruckendes Waffenarsenal, darunter auch zwei Maschinengewehre.
Die folgenden Bilder zeigten Menschen mitten in einer Attacke auf das zweite Habitat. Zwei der einleitenden Szenen waren besonders ekelhaft. In der ersten war ein halbwüchsiger Avianer zu sehen, der in der Luft geköpft worden war und zu Boden stürzte. In der linken unteren Ecke des Bildes beglückwünschten sich zwei grinsende Menschen gegenseitig zu ihrer scheußlichen Tat. Das zweite Bild zeigte eine weite rechteckige Grube in einem der Wiesensektoren der Grünregion. Darin lagen die Überreste mehrerer toter Avianer. Von links kam ein Mensch ins Bild, der auf einer Karre zwei weitere Avianerleichen brachte und sie ins Massengrab warf.
Richard war bestürzt. Was sind denn das für Bilder? Und warum bekomme ich sie gerade jetzt zu sehen? Rasch ließ er im Geist alle jüngeren Erfahrungen in dieser Welt an sich vorbeiziehen und kam — ziemlich geschockt — zu dem Schluss, dass die verwundete Myrmikatze real alles erlebt haben müsse, was man ihm als Bildmaterial einspeiste, dass die Gespinst-Kreatur das Bildmaterial irgendwie aus dem Bewusstsein der Myrmikatze entnommen und in sein Gehirn übertragen haben müsse.
Sobald er begriffen hatte, was er sah, achtete er genauer auf die Bildinhalte. Was er da an Aggression, Gewalt und Abschlachterei sah, empörte ihn in tiefster Seele. In einer späteren Bildsequenz sah er drei menschliche Soldaten, die einen Wohnkomplex in dem braunen Zylinder erstürmten und die Avianer in Fetzen schossen und erschlugen. Es gab keine Überlebenden.
Die armen Geschöpfe, sagte Richard zu sich. Sie sind verloren. Und irgendwie müssen sie das wissen .. .
Und auf einmal hatte Richard Tränen in den Augen, und eine tiefe Traurigkeit, wie er sie nie zuvor verspürt hatte, stieg in ihm auf, als ihm bewusst wurde, dass Angehörige seiner eigenen Spezies die Avianer systematisch ausrotteten. Stumm schrie er: Nein! NEIN! Hört doch auf damit! Bitte, bitte hört auf! Seht ihr denn nicht, was ihr anrichtet? Auch die Avianer sind ein Beweis für das Wunder, dass aus chemischen Stoffen Bewusstsein sich entwickeln kann. Sie sind doch wie wir! Sie sind unsere Brüder .. .
Für die folgenden Sekunden überfluteten die Erinnerungen an seine zahlreichen Interaktionen mit den Vogelgeschöpfen Richards Gedächtnis und blockierten die Bilder-Inputs. Sie haben mir das Leben gerettet! Und er sah klar wieder vor sich den Flug über das Zylindrische Meer vor vielen Jahren.
Ohne dass sie irgendwas dabei profitiert hätten. Und wie viele Menschen, fragte er sich bitter, hätten so etwas getan, um einem Avianer das Leben zu retten?
In seinem Leben hatte Richard nur selten hemmungslos geweint. Aber der Gram über das, was den Avianern angetan wurde, überwältigte
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