Die nächste Begegnung
war und in einer Vorstellung von WIE ES EUCH GEFÄLLT in seiner Heimatstadt saß, Stratford-upon-Avon. Und das bezaubernde blonde Mädchen, das die Rosalinde spielte, kam von der Bühne herunter zu ihm und flüsterte: »Bist du Richard Wakefield?«
»Ja, der bin ich.«
Dann begann die Schauspielerin Richard zu küssen. Zunächst tastend, dann fuhr sie mit ihrer kitzelnden Zunge leidenschaftlich in seinem Mund herum. Er spürte ein plötzliches heftiges sexuelles Verlangen — dann wachte er abrupt auf, und zu seiner Verblüffung empfand er sowohl seine Nacktheit wie seine Erektion als seltsam peinlich. Also, was hat das alles zu bedeuten?, hörte er das Echo von Nicoles Stimme.
An einem Punkt seiner Gefangenschaft kristallisierten sich die Erinnerungen an Nicole viel deutlicher und schärfer abgehoben heraus. Erstaunt stellte Richard fest, dass er mangels anderer Stimuli bei einiger Konzentration fähig war, sich ganze lange Gesprächssequenzen zwischen ihm und Nicole ins Gedächtnis zurückzurufen — bis hin zu kleinen Einzelheiten wie Nicoles variablem Gesichtsausdruck, wenn sie eine bestimmte Aussage unterstreichen wollte. In seiner langwährenden Isolationsperiode im Gewebe empfand Richard oft schmerzlich seine Einsamkeit, und diese lebendigen Erinnerungsbilder bewirkten, dass er seine geliebte Frau nur noch stärker vermisste.
Auch die Erinnerung an die Kinder waren gleichermaßen präzise. Und sie fehlten ihm allesamt, besonders seine Katie. Er erinnerte sich genau an das letzte Gespräch mit dieser seiner Lieblingstochter. Es war ein paar Tage vor der Hochzeit gewesen, und sie war heimgekommen, um einige ihrer Kleider abzuholen. Katie hatte da so niedergeschlagen ausgesehen, so hilflos. Aber Richard hatte ihr nicht helfen können. Da war einfach keine Verbindung mehr da, dachte er. Und dem jüngeren Bild von Katie — einer sexbesessenen jungen Frau — überlagerte sich das Bild eines zehnjährigen kleinen Mädchens, das unbekümmert über die Plätze von >New York< strolchte. Die Kombination der beiden Erinnerungsbilder rief in Richard ein intensives Gefühl des Verlustes hervor. Mit einem Seufzer gestand er sich ein: Ich hab mich nie wieder so recht frei und unbekümmert mit Katie geben können, nachdem sie erwacht ist ... Ich sah in ihr halt immer noch mein kleines Mädchen .. .
Die Klarheit seiner Erinnerungen an Nicole und Katie überzeugte Richard, dass etwas ganz Ungewöhnliches sich in seinem Gedächtnis abspielte. Er entdeckte, dass er sich auch an die exakten Ergebnisse sämtlicher Viertel-, Halb- und Finalkämpfe um den World Cup zwischen 2174 und 2190 genau e ri nnern konnte. Als junger Mann war Richard glühender Fußballfan gewesen und hatte diesen ganzen Wust nutzloser Informationen gespeichert. In den Jahren vor dem Start der Newton allerdings, während derer so viel Neues in seinem Gehirn angesammelt werden musste, war er oft auch bei Fachsimpeleien mit Freunden nicht fähig gewesen, sich auch nur an die Finalisten in Entscheidungsspielen für die Weltmeisterschaft zu erinnern.
Während die visuellen Erinnerungen weiterhin an Schärfe zunahmen, entdeckte er, dass auch die mit ihnen verbundenen Emotionen wieder auftauchten. Fast war es, als durchlebte er die gleichen Erfahrungen komplett neu. In einer langen Erinnerungsphase waren ihm nicht nur die Gefühle überwältigender Liebe und Bewunderung wieder greifbar nahe, die er für Sarah Tydings empfand, als er sie zum ersten Mal auf der Bühne sah, sondern er spürte auch erneut die Spannung und Erregtheit während der Zeit ihrer aufbrechenden Liebe (einschließlich der ungehemmten Leidenschaft der ersten Liebesnacht). Der Überschwang hatte ihm damals den Atem geraubt, und nun, so viele Jahre später und umfangen von einem fremdartigen Geschöpf, das eine Art Nervengeflecht war, reagierte Richard ähnlich stark.
Bald hatte es den Anschein, als besitze er selbst keine Kontrolle mehr darüber, welche Erinnerungen in seinem Gehirn aktiviert wurden. Anfangs (glaubte er jedenfalls) hatte er zielbewusst an Nicole gedacht, an die Kinder — und sogar an die Anfänge seiner Liebesgeschichte mit Sarah Tydings —, nur um sich einige Erleichterung zu verschaffen. Aber jetzt, sagte er eines Tages in einem imaginären Gespräch zu seinem umgebenden Netzgeflecht, nachdem meine Erinnerung — aus welchen Gründen, weiß der Himmel — von dir wieder >aufgefrischt< wurde, sieht es doch aber so aus, als ob du ein komplettes Read-out veranstalten
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