Die nächste Begegnung
Vogel«, sagte Katie voll Überzeugung. »Ich höre seine Flügel. Yippee!«, grölte sie erneut, so laut sie konnte.
Das Geräusch brach ab. Wir warteten eine Viertelstunde, ehe wir wieder hinaufkletterten, hörten aber nichts weiter. Katie berichtete Michael und Simone, dass wir einen Vogel gehört hätten. Ich konnte ihre Geschichte nicht bestätigen, zog es aber vor, mich auf keinen Streit mit ihr einzulassen. Sie war glücklich. Es war ein ereignisreicher Geburtstag.
08-03-2208
Patrick Erin O'Toole, ein in jeder Hinsicht völlig gesundes Baby, wurde gestern um 14:15h geboren. In diesem Moment hält sein stolzer Vater ihn gerade im Arm und schaut mir lächelnd auf die Finger, die über die Tastatur meines elektronischen Notizbuchs gleiten.
Es ist inzwischen spät in der Nacht. Simone hat Benjy schlafen gelegt, wie jeden Abend um neun. Dann ging sie selber ins Bett. Sie war sehr müde. Sie kümmerte sich ganz allein und ohne Hilfe um ihn während meiner erstaunlich langwierigen Wehen. Jedes Mal wenn ich aufschrie, reagierte Benjy mit Ge brüll, und Simone versuchte dann, ihn zu beruhigen. Katie hat Patrick bereits für sich als ihren kleinen Bruder mit Beschlag belegt. Wenn Benjy Simone >gehört<, dann eben Patrick ihr, Katie. Wenigstens zeigt sie endlich Interesse an einem anderen Mitglied der Familie.
Patrick war nicht geplant, doch Michael ist ebenso entzückt wie ich, dass er sich bei uns eingestellt hat. Seine Empfängnis war irgendwann im letzten Spätfrühling, vielleicht im ersten Monat, nachdem Michael und ich begannen, nachts gemeinsam in seinem Zimmer zu schlafen. Das war meine Idee gewesen, aber ich glaube ziemlich sicher, dass auch Michael daran gedacht hatte.
In der Nacht, als sich Richards Verschwinden genau zum zweiten Mal jährte, war ich völlig unfähig zu schlafen. Ich kam mir so verlassen vor. Wie gewöhnlich. Dann versuchte ich mir auszumalen, dass ich bis ans Ende meines Lebens meine Nächte allein und einsam verbringen müsste, und ich wurde scheußlich verzweifelt. Kurz nach Mitternacht ging ich dann rüber zu Michael in sein Zimmer.
Diesmal waren Michael und ich von Anfang an entspannt und ohne Rückhalt beisammen. Ich nehme an, es war eben für uns beide der richtige Zeitpunkt. Nach Benjys Geburt war Michael vollauf beschäftigt, mir in allem mit den Kindern zu helfen. Und in der Zeit begann er etwas weniger strikt in seinen religiösen Praktiken zu werden und war für uns alle, mich eingeschlossen, zugänglicher. Am Ende war unsere gegenseitige natürliche Kompatibilität wieder so stark wie früher. Wir brauchten uns nur noch alle beide einzugestehen, dass Richard nie wieder zurückkommen würde.
Angenehm. Das ist wahrscheinlich das treffendste Wort, um die Beziehung zu Michael zu beschreiben. Mit Henry war es Ekstase. Mit Richard — Leidenschaft, Aufregung, eine wilde Achterbahnfahrt im Leben und im Bett ... Michael gibt mir Trost und Schutz. Wir halten uns im Schlaf bei der Hand, ein perfektes Symbol für unsere Beziehung. Wir haben selten Geschlechtsverkehr, doch es genügt uns.
Ich habe einige Konzessionen gemacht. Ich bete sogar hin und wieder — ein bisschen —, weil es Michael glücklich macht, wenn ich es tue. Er ist seinerseits toleranter geworden, wenn es darum geht, den Kindern andere Ideen und Wertsysteme nahezubringen als die von seiner römisch-katholischen Dogmatik; erlaubten. Wir sind beide zu dem Schluss gelangt, dass wir bei unseren elterlichen Aufgaben Harmonie und Übereinstimmung anstreben wollen.
Wir sind nun zu sechst: eine isolierte, kleine Familie von menschlichen Wesen ... mehreren anderen Sternsystemen
näher als unserem Geburtsplaneten und seinem Zentralgestirn. Wir wissen noch immer nicht, ob der gigantische, durch den Weltraum schießende Zylinder — unsre jetzige Welt — tatsächlich einem Ziel zustrebt. Manchmal scheint das auch völlig unwichtig geworden zu sein. Wir haben uns hier in Rama unsere eigene Welt geschaffen, und so begrenzt sie sein mag, ich glaube, wir sind glücklich.
11
30-01-2209
Ich hatte vergessen, wie das ist, wenn einem Adrenalinstöße durch den Körper schießen. Im Verlauf der verflossenen dreißig Stunden wurde unser friedliches, gemächliches Rama- Idyll von Grund auf zerstört.
Angefangen hat es mit zwei Träumen. Gestern früh, kurz vor dem Erwachen, hatte ich einen ungewöhnlich lebhaften Traum über Richard. Nein, also Richard war nicht eigentlich in dem Traum, ich meine, er war nicht wirklich bei
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