Die nächste Begegnung
und so verbrachte ich weitere acht lange Stunden damit, über Simse zu klettern und Stollen zu untersuchen. Ich durchsuchte alle Plätze, an denen ich während meines kurzen Aufenthalts hier vor so vielen Jahren gewesen war, und ich stieß dabei sogar auf mehrere neue Kammern von unklarer Bestimmung. Aber nirgends auf eine Spur von Richard. Tatsächlich gab es hier überhaupt keinen Hinweis auf etwas Lebendiges. Im besorgten Bewusstsein, dass der kurze Rama-Tag fast vorüber sei und dass die vier Kinder in unsrem Bau bald aufwachen würden, kehrte ich schließlich müde und niedergeschlagen zurück.
Als ich am Einstieg zu unsrem Heim anlangte, waren sowohl der Deckel wie das Gitter geöffnet. Ich war mir zwar recht sicher, dass ich beides wieder verschlossen hatte, konnte mich jedoch nicht mehr genau erinnern, was ich beim Aufbruch getan hatte. Dann sagte ich mir, ich sei wohl zu aufgeregt gewesen und hätte es vergessen. Ich wollte gerade einsteigen, als ich Michael hinter mir rufen hörte. »Nicole!«
Ich fuhr herum. Michael kam in der Ostschneise auf mich zu. Er ging schnell, was für ihn ungewöhnlich war, und er trug Klein-Patrick im Arm. »Da bist du ja endlich«, sagte er atemlos, als ich zu ihm trat. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Er brach abrupt ab, starrte mich an und schaute hastig umher. »Aber wo ist denn Katie?», fragte er ängstlich.
»Was meinst du damit: Wo ist Katie?», fragte ich. Der Ausdruck in seinem Gesicht alarmierte mich.
»Ja, ist sie denn nicht bei dir?«
Als ich den Kopf schüttelte und sagte, ich hätte sie nicht gesehen, brach Michael plötzlich in Tränen aus. Ich stürzte vor und riss Klein-Patrick an mich, um ihn zu beruhigen, der sich bei Michaels Schluchzen ängstigte und ebenfalls zu weinen begann.
»Ach, Nicole«, stammelte Michael. »Es tut mir ja so leid. Patrick war in der Nacht so unruhig, also hab ich ihn zu mir ins Zimmer genommen. Dann bekam Benjy Bauchweh, und Simone und ich mussten ihn ein paar Stunden lang pflegen. Wir sind dann alle eingeschlafen, und Katie war allein im Kinderzimmer. Und als wir vor zwei Stunden aufwachten, war sie verschwunden.«
Ich hatte Michael noch nie so bekümmert gesehen. Ich versuchte ihn zu beruhigen, sagte, Katie spiele wahrscheinlich bloß irgendwo in der Nähe (und wenn wir sie finden, dachte ich, werde ich ihr eine Predigt halten, die sie nie vergisst!), doch Michael bestritt das.
»Nein, nein ... sie ist nirgendwo in der Nähe. Patrick und ich suchen schon seit mehr als einer Stunde.«
Dann stiegen wir hinunter, um nach Simone und Benjy zu sehen. Simone informierte uns, Katie sei höchst enttäuscht gewesen, dass ich mich alleine auf die Suche nach Richard begeben hätte. »Sie hat fest damit gerechnet«, erklärte Simone fröhlich, »dass du sie mitnimmst.«
»Und warum hast du mir das nicht gestern Abend gesagt?«, fragte ich.
»Ach, d as kam mir nicht dermaßen wichtig vor«, erklärte meine Achtjährige. »Außerdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass sie allein losziehen würde, um Daddy zu suchen.«
Michael war ebenso erschöpft wie ich, aber einer musste Katie suchen gehen. Und dafür kam wohl nur ich in Frage. Ich wusch mich oberflächlich, bestellte bei den Ramanern Frühstück für alle und gab einen kurzgefassten Bericht über meine Avianische Höhlenfahrt. Simone und Michael drehten den geschwärzten TB langsam in der Hand. Ich merkte, auch sie fragten sich, was mit Richard passiert war.
»Katie hat gesagt, Daddy ist fort, um die Oktos zu finden«, erklärte Simone kurz vor meinem Aufbruch. »Sie hat gesagt, in denen ihrer Welt ist es viel aufregender.«
Ich war auf dem Weg zur Plaza bei der Höhle der Oktarachniden von bösen Vorahnungen erfüllt. Unterwegs gingen die Lichter aus, und es war wieder Nacht in Rama. »Na, wunderbar!«, brummte ich vor mich hin. »Es gibt nichts Schöneres, als in der Finsternis nach einem davongelaufenen Kind zu suchen.«
Der Deckel und das Doppelgitter über dem Einstieg in die Höhle der Oktos waren geöffnet. Die Gitter hatte ich noch nie vorher offen gesehen. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich wusste instinktiv, dass Katie da hinuntergeklettert war und dass ich ihr — trotz meiner Furcht — folgen würde. Zuerst kniete ich nieder und rief zweimal laut ihren Namen in die schwarze Tiefe. Ich hörte den Widerhall in den Stollen und strengte mich an, aber da kam keine Antwort und überhaupt kein sonstiger Laut. Aber wenigstens — beruhigte ich mich —
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