Die nächste Begegnung
Entscheidendes ganz einfach vergessen könnte. Sobald sie jedoch eine ausführliche Liste der noch zu erledigenden Aufgaben und einen Zeitplan aufgestellt hatte, entkrampfte sie sich ein wenig. Die Liste enthielt keine Unmöglichkeiten.
Ein Eintrag in ihrem elektronischen Notizbuch lautete in Großbuchstaben BENJY?? Sie hockte auf der Bettkante, dachte an ihren behinderten ältesten Sohn und machte sich Vorwürfe, dass sie das Problem nicht früher in Angriff genommen hatte. Auf einmal hörte sie ein lautes Klopfen an ihrer geöffneten Tür. Es war eine erstaunliche Koinzidenz.
»Mam-mi«, sagte Benjy sehr langsam und mit seinem strahlenden Unschuldslächeln, »darf ich mit dir reden?« Er überlegte einen Moment. »Jetzt?«
»Aber natürlich, Lieber«, antwortete Nicole. »Komm rein und setz dich zu mir.«
Benjy kam zu ihr und umarmte sie heftig. Er blickte in seinen Schoß, und sein Gefühlskonflikt war unüberhörbar, als er stammelnd zu sprechen begann. »Du und Richard und die andern Kinder geht bald fort — für g-anz lan-ge«, sagte er.
»So ist es.« Nicole versuchte fröhlich zu klingen.
»Und Dad-dy und Si-mone blei-ben hier und hei-ra-ten?«
Das war deutlich eine Frage. Benjy hatte den Kopf gehoben und wartete auf ihre Bestätigung. Nicole nickte, und sofort füllten sich die Augen des Jungen mit Tränen und sein Gesicht verzerrte sich. »Und wassis mit Ben-jy?«, fragte er. »Was passiert mit Ben-jy?«
Nicole presste seinen Kopf an ihre Schulter und weinte mit ihm. Sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen. Nicole war nun wütend auf sich, dass sie so lange gezögert hatte. Er hat es die ganze Zeit gewusst, dachte sie. Seit jenem ersten Gespräch. Und er hat gewartet. Er glaubt, niemand will ihn haben.
»Du kannst es dir aussuchen, Liebster«, gelang es ihr zu sagen, nachdem sie ihre eignen Gefühle wieder etwas im Griff hatte. »Wir wären glücklich, wenn du mit uns kommen willst. Und dein Vater und Simone wären ebenfalls sehr froh, wenn du hier bei ihnen bleiben möchtest.«
Benjy starrte seine Mutter an, als könne er ihr nicht glauben. Sie wiederholte das Ganze noch einmal sehr langsam. »Und d-du sagst mir die W-ahr-heit?«, fragte er schließlich. Nicole nickte heftig.
Das Kind lächelte flüchtig und wandte dann den Kopf ab. Es schwieg lange. »Es wird kei-ner hier mit mir spie-spie-len«, sagte Benjy schließlich und blickte immer noch fest zur Wand. »Und Si-mone muss bei Dad-dy sein.«
Nicole war überrascht, wie knapp und präzise ihr Sohn seine Überlegungen formuliert hatte. Er schien zu warten. »Ja, aber dann komm doch mit uns«, sagte sie leise. »Dein Onkel Richard und Katie und Patrick und Ellie und ich, wir alle lieben dich doch sehr und möchten sehr gern, dass du bei uns bist.«
Benjy wandte ihr den Kopf wieder zu und sah sie an. Neue Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Ich will mit euch ge-hen, Mam-mi«, stammelte er und barg den Kopf an ihrer Schulter.
Er hat sich bereits entschieden gehabt, dachte Nicole und drückte den Jungen fest an sich. Er ist gescheiter, als wir denken. Er ist nur hierher zu mir gekommen, um sich zu vergewissern, dass wir ihn haben wollen.
7
... und, lieber Gott, gib, dass ich diese wundervolle Jungfrau ehre und liebe, der ich mich bald vermählen soll! Gib, dass wir das Geschenk DEINER Liebe teilen und gemeinsam wachsen in DEINER Erkenntnis ... Ich erflehe dies in Namen DEINES Sohnes, den DU auf die Erde gesandt hast, um uns DEINE Liebe zu zeigen und uns von unserer Sündhaftigkeit zu erlösen. Amen!«
Michael Ryan O'Toole, einundsiebzig Jahre alt, löste die gefalteten Hände und öffnete die Augen. Er saß am Tisch in seinem Zimmer. Er warf einen Blick auf die Uhr. Nur noch zwei Stunden, dachte er, und ich heirate Simone. Er streifte das Jesusbildchen und die Statuette des hl. Michael von Siena, die vor ihm standen, mit einem kurzen Blick. Und dann, später heut Nacht, nach dem Mahl, das zugleich unser Hochzeitsmahl und das Geburtstagsessen für Nicole ist, werde ich diesen Engel in meinen Armen halten. Aber er konnte den spontan auftauchenden Gedanken nicht unterdrücken: Lieber Gott, bitte mach, dass ich sie nicht enttäusche.
Er holte aus dem Schreibtisch eine kleine Bibel hervor. Sie war das einzige echte Buch, das er besaß. All sein sonstiger Lesestoff befand sich auf kleinen Datenwürfeln gespeichert, die er in sein elektronisches Notizbuch schieben konnte. Aber seine Bibel war etwas Besonderes, ein Erinnerungsstück aus einem
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