Die nächste Begegnung
Abschiedsrede hatte halten dürfen. Die O'Tooles ließen die Reste auf ihren Tellern liegen und stürzten in die Bar. Dort erfuhren sie, dass das Beben um 17.45 Uhr, Pacific Time, begonnen habe. In der Nachbarschaft des Cajon-Passes war die gewaltige San-Andreas-Verwerfung auseinandergebrochen, und die armen Menschen, Autos und Gebäude in einem Umkreis von hundert Meilen um das Epizentrum des Bebens waren umhergeschleudert worden über die wogende Erde, als wären sie unselig in einen Orkan geratene Boote auf See.
Michael und Kathleen hatten die ganze Nacht hindurch die Nachrichten gehört und waren immer wieder zwischen Hoffnung und bangem Entsetzen hin und her gerissen worden, sobald erst einmal das ganze Ausmaß dieser größten nationalen Katastrophe der USA in diesem Jahrhundert genauer abschätzbar wurde. Das Beben hatte eine Stärke von 8.2 Punkten auf der Richter-Skala, was erschreckend hoch war. Zwanzig Millionen Menschen waren ohne Wasser, Elektrizität, Transport, und Kommunikationsverbindungen. Fünfzig Fuß tiefe klaffende Spalten in der Erde hatten ganze Einkaufszentren verschluckt. Nahezu sämtliche Straßen waren unpassierbar geworden. Die Schäden waren schlimmer und ausgedehnter, als wenn mehrere Atombomben auf den Großraum der Metropole Los Angeles gefallen wären.
In den frühen Morgenstunden, noch vor der Dämmerung, hatte die Bundes-Notstandsbehörde eine Telefonnummer bekanntgegeben, die Auskünfte erteilen würde. Kathleen O'Toole gab dem Nachrichtenapparat alles an Informationen, was sie besaßen — Adresse und Telefonnummer von Tommys Apartment, Namen und Adresse des mexikanischen Restaurants, in dem er jobbte, um sich etwas Geld dazuzuverdienen, und die Adresse und Telefonnummer seiner Freundin.
Wir warteten den ganzen Tag und bis spät in die Nacht, erinnerte sich Michael. Dann rief Cheryl an. Es war ihr irgendwie gelungen, im Auto bis zum Haus ihrer Eltern in Poway zu kommen.
»Das Restaurant ist eingestürzt, Mr O'Toole«, sagte Cheryl unter Tränen. »Dann brach ein Feuer aus. Ich habe mit einem der andren Kellner gesprochen, der überlebt hat, weil er draußen auf dem Patio war, als das Beben anfing .. . Tommy hatte die Sektion dicht bei der Küche .. .
Michael O'Toole holte tief Luft. Das ist nicht recht, dachte er und mühte sich, die schmerzlichen Erinnerungen an den Tod seines Sohnes zu verscheuchen. Nein, es ist nicht recht, wiederholte er. Heute ist ein Tag der Freude, nicht der Betrübnis und Trauer! Um Simones willen darf ich nicht an ihn zurückdenken.
Er schloss die Bibel. Er wischte sich über die Augen. Dann stand er auf und ging ins Bad. Zuerst rasierte er sich, langsam und bedächtig, dann trat er unter die heiße Dusche.
Eine Viertelstunde später schlug er seine kleine Bibel wieder auf, diesmal mit einem Schreibstift in der Hand. Er hatte die bösen Dämonen der Erinnerung an seinen toten Sohn vertrieben. Schwungvoll sch ri eb er einen Zusatz auf dem Blatt >Wichtige Begebenheiten<, dann hielt er inne und las die letzten vier Einträge noch einmal durch:
31-10-97 — Geburt des Enkels Matthew Arnold Rinaldi, in Toledo/Ohio.
27-08-06 — Geburt meines Sohnes Benjamin Ryan O'Toole, in Rama.
07-03-08 — Geburt meines Sohnes Patrick Erin O'Toole, in Rama.
06-01-14 — Vermählung mit Simone Tiasso Wakefield.
Du bist ein alter Mann, O'Toole, sagte er zu sich, während er sein schütteres graues Haar im Spiegel betrachtete. Die Bibel hatte er vor einer Weile zugeschlagen und war wieder ins Bad gegangen, um sich noch einmal das Haar zu bürsten. Viel zu alt, um noch mal zu heiraten! Er dachte an seine erste Hochzeit zurück, vor sechsundvierzig Jahren. Meine Haare waren dicht damals und blond, erinnerte er sich. Und Kathleen war so schön. Die Trauung war großartig. Mir kamen die Tränen, als ich sie am Portal auftauchen sah.
Das Bild von Kathleen im Brautkleid, am Arm ihres Vaters am anderen Ende des langen Mittelgangs der Kathedrale ging in eine andere Erinnerung an sie über, die gleichfalls unter einem Schleier von Tränen lag. Diesmal aber weinte seine Frau. Sie saß neben ihm im >Familienraum< in Cape Kennedy, als es für ihn Zeit wurde, für den Flug zu LEO- 3 einzuchecken, um zu der restlichen Newton-Besatzung zu stoßen.
»Pass gut auf dich auf«, hatte seine Frau bei diesem erstaunlich gefühlsbetonten Abschied gesagt. Sie hatten sich umarmt. »Ich bin stolz auf dich, Liebling. Und ich liebe dich!«
»Weil ich dich sehr liebe«, hatte auch Simone
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