Die Namen der Toten
ein Loch weiter und ging hinaus in die Sonne.
Ganz in der Nähe befand sich die öffentliche Bibliothek. Es war ein stattliches Gebäude, an dem irgendein Architekt seine Vorstellung von Neoklassizismus umgesetzt hatte. Will gab seine Tasche an der Garderobe ab, aber da es keinen Metalldetektor gab, ließ er seine Waffe im Schulterholster stecken und suchte sich einen ruhigen Platz an einem der langen Tische im hinteren Teil des klimatisierten Lesesaals.
Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass er auffällig wirkte. Rund zwei Dutzend Menschen waren in dem Raum, und er war der Einzige, der einen Anzug trug und kein Buch vor sich liegen hatte. Bis auf ein gelegentliches Hüsteln oder Füßescharren war es in dem Saal still. Will nahm seine Krawatte ab, stopfte sie in die Jackentasche und machte sich auf die Suche nach einem Buch, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte.
Er war kein großer Leser und erinnerte sich kaum noch daran, wann er zum letzten Mal zwischen den Regalreihen einer Bibliothek entlanggegangen war – auf dem College vermutlich, und wahrscheinlich war er eher hinter einem Mädchen her gewesen, als ein Buch zu suchen. Trotz des aufregenden Tages hatte ihn das schwere Essen müde gemacht. Er streifte langsam zwischen den beängstigend eng stehenden Reihen hoher Metallregale hindurch und atmete den Geruch von altem Papier ein. Tausende von Titeln zogen vor seinen Augen vorbei, und nach einer Weile fühlte er sich davon leicht benommen. Am liebsten hätte er sich in einer dunklen Ecke zusammengerollt und eine Runde geschlafen. Doch dann, kurz bevor er völlig erlahmte, wurde er schlagartig wieder hellwach.
Er wurde beobachtet.
Zuerst spürte er es nur, dann hörte er Schritte aus dem Gang links von sich. Er drehte sich um und sah gerade noch ein Bein am Ende der Regalreihe verschwinden. Er tastete durch die Jacke nach seinem Schulterholster, hastete zum Ende des Gangs und bog zweimal rechts ab. Der Gang war leer. Er lauschte, meinte etwas zu hören und schlich leise auf das Geräusch zu, das von zwei Reihen weiter in Richtung Saalmitte gekommen war. Als er um die Ecke bog, sah er einen Mann davonlaufen. »Hey!«, rief Will.
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Er war dick, hatte einen wirren, speckigen Bart und trug Winterkleidung, Wanderstiefel, einen mottenzerfressenen Pullover und einen Parka. Seine Wangen waren pockennarbig und gerötet, seine Nase war knollig und großporig wie eine Orangenschale. Darauf saß eine Drahtgestellbrille, die allem Anschein nach vom Trödel stammte. Obwohl er über fünfzig sein musste, wirkte er wie ein bockiges Kind, das etwas angestellt hat.
Vorsichtig ging Will auf ihn zu. »Sind Sie mir gefolgt?«
»Nein.«
»Das glaube ich aber schon.«
»Also gut, ich bin Ihnen gefolgt«, gab der Mann zu.
Will entspannte sich. Der Mann war ungefährlich. Vermutlich psychisch krank, aber nicht gewalttätig. »Und warum sind Sie mir gefolgt?«
»Um Ihnen bei der Suche nach einem Buch zu helfen.« Die Stimme war völlig ausdruckslos. Jedes Wort kam in gleichem Tonfall, wurde aber mit größter Ernsthaftigkeit vorgetragen.
»Tja, mein Freund, ich kann tatsächlich ein bisschen Hilfe brauchen. Ich kenne mich mit Bibliotheken nämlich nicht besonders aus.«
Der Mann lächelte und enthüllte dabei eine Reihe schlechter Zähne. »Ich liebe die Bibliothek.«
»Okay, dann helfen Sie mir bei der Suche nach einem Buch. Ich heiße Will.«
»Ich bin Donny.«
»Hallo, Donny. Sie gehen voraus, ich folge Ihnen.«
Freudig eilte Donny zwischen den Regalen hindurch, wie eine Laborratte, die gelernt hat, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden. Er führte Will um eine Ecke, dann zwei Treppen hinab in einen Kellerraum und lief auch dort zielstrebig weiter. Sie kamen an einer Bibliotheksassistentin vorbei, einer älteren Frau, die einen Wagen voller Bücher schob und schüchtern lächelte. Offenbar freute es sie, dass Donny einen Spielkameraden gefunden hatte.
»Sie müssen aber ein richtig gutes Buch für mich haben, Donny«, rief Will ihm zu.
»Ich hab auch ein richtig gutes Buch für Sie.«
Will hatte viel Zeit und fand diese überraschende Episode unterhaltsam. Der Mann, hinter dem er herlief, war allem Anschein nach schizophren, vielleicht auch etwas zurückgeblieben und stand möglicherweise unter starken Medikamenten. Hier unten, tief im Keller der Bibliothek, fühlte sich Donny zu Hause, und Will spielte sein Spiel mit.
Schließlich blieb Donny mitten in einem Gang
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