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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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sich während der ganzen Fahrt zu ihr nach Hause. Er wollte ihre Eltern nicht mit hineinziehen, aber Nancy bestand darauf. »Ich möchte, dass sie dich kennenlernen.«
    »Und warum?«
    »Sie haben schon viel von dir gehört. Sie haben dich im Fernsehen gesehen.« Sie hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Sie wissen über uns Bescheid.«
    »Hast du deinen Eltern etwa erzählt, dass du eine Affäre mit deinem Teamkollegen hast, der doppelt so alt ist wie du?«
    »In meiner Familie herrscht eben Vertrauen. Außerdem bist du nicht doppelt so alt wie ich.«
     
    Das Haus der Lipinskis lag an einer kurzen Sackgasse gegenüber von Nancys alter Highschool. Es war ein gedrungener Backsteinbau aus den 1930er Jahren mit einem steilen Schieferdach, und im Vorgarten blühten so viele orangefarbene und rote Rosen, dass es aussah, als würde das Haus in einem Flammenmeer stehen.
    Joe Lipinski war im Garten hinter dem Haus, ein kleiner Mann mit nacktem Oberkörper und weiten Shorts. Überall auf seinem Körper wucherten seidig weiße Haare – auf dem sonnenverbrannten Schädel zwar eher spärlich, dafür umso dichter auf der Brust. Auf seinem Gesicht mit den rundlichen Wangen lag ein verschmitzter Ausdruck. Gerade kniete er im Gras und beschnitt einen Rosenstock, doch als er Will und Nancy sah, sprang er geradezu jugendlich federnd auf und rief: »Hallo! Der Rattenfänger! Willkommen in der Casa Lipinski!«
    »Sie haben einen herrlichen Garten, Sir«, sagte Will.
    »Kommen Sie mir nicht mit Sir, Joe heiße ich. Aber danke. Mögen Sie Rosen?«
    »Allerdings.«
    Joe schnitt eine kleine Knospe kurz unter dem Stielansatz ab und hielt sie Will hin. »Für Ihr Knopfloch. Steck ihm die Rose ins Knopfloch, Nancy.«
    Sie errötete, gehorchte aber.
    »So!«, rief Joe. »Jetzt könnt ihr zwei zum Ball gehen. Kommt. Gehen wir aus der Sonne. Deine Mutter hat das Abendessen gleich fertig.«
    »Ich will Ihnen keine Umstände machen«, wandte Will ein.
    Joe warf ihm einen Blick zu, als wollte er sagen: Was redest du da?, und zwinkerte seiner Tochter zu.
    Im Haus war es warm, denn Joe hielt nichts von Klimaanlagen. Alles wirkte wie aus einer anderen Zeit, seit dem Einzug im Jahr 1974 nicht mehr verändert. Die Küche und die Badezimmer waren zuletzt offenbar in den sechziger Jahren renoviert worden. Die kleinen Zimmer waren mit dicken, weichen Teppichen und klobigen, abgewetzten Möbeln ausgestattet, typisch für die erste Generation, die es in die Vorstädte gezogen hatte.
    Mary Lipinski stand in der Küche, eingehüllt in die Düfte, die aus diversen Kochtöpfen aufstiegen. Sie war eine gutaussehende Frau, die sich nicht hatte gehenlassen, auch wenn sie, wie Will bemerkte, um die Hüfte etwas füllig war. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, sich vorzustellen, wie seine Freundinnen in zwanzig Jahren aussehen könnten, als ob er je eine Beziehung gehabt hätte, die länger als zwanzig Monate hielt. Doch Marys Gesicht war jugendlich geblieben, ihr schulterlanges braunes Haar wirkte zauberhaft, und ihr Busen war straff. Nicht schlecht für Ende fünfzig, Anfang sechzig.
    Joe war vereidigter Buchprüfer, Mary Buchhalterin. Sie hatten sich bei General Food kennengelernt, wo er, der etwa zehn Jahre älter war, als Buchhalter arbeitete und sie als Sekretärin in der Steuerabteilung. Anfangs war er von Queens zu seinem Arbeitsplatz gependelt, sie hingegen stammte aus White Plains. Als sie heirateten, kauften sie dieses kleine Haus an der Anthony Road, nur eine Meile vom Firmensitz entfernt. Jahre später, nachdem das Unternehmen von Kraft aufgekauft und der Betrieb in White Plains geschlossen worden war, ließ Joe sich auszahlen. Er machte sich als Steuerberater selbständig, und Mary nahm einen Job in der Buchhaltungsabteilung eines Ford-Händlers an. Nancy war ihre einzige Tochter, und die beiden waren begeistert davon, dass sie jetzt wieder in ihrem alten Zimmer wohnte.
    »Das sind wir also, eine moderne Version von Maria und Josef«, sagte Joe am Schluss seiner kurzen Schilderung der Familiengeschichte und reichte Will einen Teller grüne Bohnen. Im Radio lief leise eine Verdi-Oper. Das gute Essen, die Musik und das unkomplizierte Gespräch erfüllten Will mit trägem Wohlbehagen. Das hier war der wohltuende Mist, den er seiner Tochter niemals würde bieten können, dachte er wehmütig. Ein Glas Wein oder Bier wäre nicht schlecht gewesen, aber offenbar gab es so was bei den Lipinskis nicht. Joe setzte gerade zu seiner Pointe an: »Wir sind fast

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