Die Namen der Toten
um deine Tante?«
»Ja. Ich muss mal kurz zur Toilette. Bin gleich wieder da.« Er rang um Fassung, konnte sie kaum noch anschauen.
»Mein armer Schatz«, sagte sie mitfühlend. »Ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte, dass du genauso glücklich bist wie ich. Komm ganz schnell wieder zurück zu deinem Kerry-Liebling, okay?«
Er nahm seinen Aktenkoffer und entfernte sich mit kurzen, schlurfenden Schritten, den Kopf gesenkt, als wäre er auf dem Weg zu seiner eigenen Hinrichtung. Als er die Lobby erreicht hatte, hörte er Glas splittern, dann setzte eine kurze, quälende Stille ein, auf die gellende Frauenschreie und dröhnend laute Rufe von Männern folgten.
Im Restaurant und der Lobby herrschte Chaos, sämtliche Gäste liefen in panischem Entsetzen durcheinander, schubsten und drängten Richtung Ausgang. Mark lief wie ein Zombie geradeaus durch die Tür des Wilshire, wo ein Auto mit laufendem Motor am Bordstein stand, das vom Parkservice weggefahren werden sollte. Doch der Mann vom Parkservice wollte sehen, was in der Lobby los war, und ging durch die Drehtür ins Hotel.
Ohne nachzudenken, setzte sich Mark ans Steuer, fuhr in den warmen Abend von Beverly Hills und versuchte etwas zu erkennen, während ihm die Tränen aus den Augen strömten.
31. Juli 2009 – Los Angeles
Marilyn Monroe hatte hier gewohnt, aber auch Liz Taylor, Fred Astaire, Jack Nicholson, Nicole Kidman, Brad Pitt, Johnny Depp und andere, die ihm entfallen waren, weil er nicht auf die Worte des Hotelpagen geachtet hatte, der, als er sah, dass der Mann allein sein wollte, rasch ging, ohne die übliche große Führung durch das Haus zu Ende zu bringen.
Auf den Pagen wirkte der Mann verwirrt und mitgenommen. Sein einziges Gepäckstück war ein Aktenkoffer. Allerdings verkehrten in diesem Haus alle möglichen Drogenabhängigen und Exzentriker, und fürs Trinkgeld hatte der vernuschelte Typ einen Hunderter aus einem Bündel gezogen, also war vermutlich alles in Ordnung.
Als Mark aus einem fast komaähnlichen Schlaf aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war, doch dann fiel es ihm trotz seiner höllischen Kopfschmerzen viel zu schnell wieder ein, und verzweifelt schloss er erneut die Augen. Ein paar Geräusche drangen zu ihm durch: das leise Summen der Klimaanlage, Vogelgezwitscher vor dem Fenster, das Rascheln seiner Haare zwischen den Baumwolllaken und seinem Ohr. Er spürte den Luftzug des Deckenventilators. Sein Mund war so trocken, dass er das Gefühl hatte, er hätte nicht einmal mehr einen mikroskopischen Tropfen Speichel übrig, um seine Zunge zu befeuchten.
Er hatte eine Suite bezogen, deren Gästen Literflaschen teuerster Alkoholika zur Verfügung gestellt wurden. Auf dem Schreibtisch stand eine halbleere Wodkaflasche – eine wirksame Medizin gegen unangenehme Gedanken –, und er hatte ein Glas nach dem anderen getrunken, bis er sich an nichts mehr erinnern konnte. Trotzdem hatte er sich offenbar ausgezogen und das Licht ausgeschaltet, also funktionierten die wichtigsten Reflexe noch.
Gedämpftes Licht fiel durch die Wohnzimmertür und hob die pastellfarbene Ausstattung hervor, die in einer Palette aus Pfirsich-, Malven-und Salbeitönen gehalten war. Kerry hätte es hier gefallen, dachte er und drückte den Kopf wieder ins Kissen.
Er war mit dem gestohlenen Auto nur ein paar Blocks gefahren und dann zu dem Schluss gekommen, dass er für eine Flucht viel zu erledigt war. Er hatte an einem ruhigen, von Wohnhäusern gesäumten Abschnitt des North Crescent angehalten, den Wagen stehen lassen und sich ziellos treiben lassen. Er stand noch zu stark unter Schock, um sich klarzumachen, dass er in Beverly Hills als Fußgänger stärker auffiel als am Steuer eines gestohlenen BMWs. Eine ganze Weile lief er so umher. Schließlich fand er sich vor einem hellgrünen Schild wieder, vor das dreidimensionale Buchstaben montiert waren.
The Beverly Hills Hotel.
Er blickte an der rosa Zuckerbäckerfassade des Gebäudes hinauf, das in einem üppig grünen Garten stand. Er lief über die Auffahrt, ging zur Rezeption, fragte, was für Zimmer frei wären, und nahm das teuerste. Es war ein prächtiger Bungalow mit einer sagenumwobenen Geschichte, für den er mit einem Bündel Geldscheine bezahlte.
Er schwankte aus dem Bett, war zu dehydriert, um pinkeln zu können, und trank eine ganze Flasche Wasser. Dann setzte er sich wieder auf die Bettkante und dachte nach. Aber sein Verstand, der sonst so präzise wie ein Computer funktionierte, war
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