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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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geschlurft kam. Die Falten in seinem Gesicht waren so tief, dass man eine Münze hätte hineinstecken können. Seine Haut war tiefschwarz, ohne einen Schimmer Braun, von seinen Handflächen einmal abgesehen, die heller waren, wie Milchkaffee. Seine langen Finger passten zu seiner aufgeschossenen, mageren Gestalt. Haare und Bart waren kurz gestutzt und eher weiß als grau.
    Er wandte sich an die Neuankömmlinge. »Guten Tag«, sagte er zu Will und Nancy. »Tut mir leid, dass ich so viel Aufregung verursache.«
    Will und Nancy stellten sich vor.
    »Nennen Sie mich bitte nicht Mr. Robertson«, sagte der Mann. »Meine Freunde nennen mich Clive.«
     
    Kurz darauf rückte die Polizei ab. Die Sonne stand tief über dem Hudson, wurde dunkler und breiter, wie eine fette Blutorange. Will zog die Vorhänge im Wohnzimmer zu und ließ die Jalousien in Clives Schlafzimmer herunter. Bislang war noch niemand von einem Scharfschützen erschossen worden, aber der Doomsday-Killer hielt sich an kein Schema. Will untersuchte mit Nancy jeden Quadratzentimeter der Wohnung, dann blieb Nancy bei Clive, während Will sich in Flur und Treppenhaus umsah.
    Die offizielle Vernehmung war einfach – es gab nicht viel zu sagen. Clive war nachmittags mit seinem Quintett von einer Dreistädtetournee zurückgekommen. Niemand hatte einen Schlüssel zu dem Apartment, und soweit er es beurteilen konnte, war in seiner Abwesenheit auch niemand eingedrungen. Nach einem ereignislosen Flug von Chicago war er vom Flughafen aus mit dem Taxi direkt nach Hause gefahren und hatte die Karte in einem Haufen Post gefunden, der sich die Woche über angesammelt hatte. Er hatte sofort erkannt, worum es sich handelte, und die 911 gewählt. Das war alles.
    Nancy ging mit ihm Namen und Adressen der Doomsday-Opfer durch, aber Clive schüttelte nur jedes Mal den Kopf. Er kannte niemanden davon. »Warum sollte mir dieser Kerl was antun wollen?«, sagte er mit seinem rauen Singsang. »Ich bin doch bloß ein Pianist.«
    Nancy klappte ihr Notizbuch zu, und Will zuckte die Achseln. Sie waren fertig. Es war kurz vor acht. Noch vier Stunden, bis sein Todestag anbrechen sollte.
    »Mein Kühlschrank ist leer, weil ich weg war. Sonst hätte ich Ihnen was zu essen angeboten.«
    »Wir bestellen uns was«, sagte Will. »Was gibt’s hier in der Nähe?« Dann schob er rasch nach: »Es geht auf Kosten der Regierung.«
    Clive schlug Rippchen von der Charley’s-Filiale am Frederick Douglass Boulevard vor, ging ans Telefon und gab eine komplizierte Bestellung mit fünf verschiedenen Beilagen in Auftrag. »Geben Sie meinen Namen an«, flüsterte Will und schrieb ihn für Clive in Blockbuchstaben auf.
    Während sie warteten, einigten sie sich auf einen Plan. Clive sollte bis Mitternacht immer in Sichtweite bleiben. Er sollte nicht ans Telefon gehen. Während er schlief, würden Nancy und Will im Wohnzimmer Wache schieben, am Morgen eine Lagebeurteilung samt Einschätzung der Gefahrensituation vornehmen und einen neuen Überwachungsplan ausarbeiten.
    Dann saßen sie schweigend da. Clive zappelte auf seinem Lieblingssessel herum, runzelte die Stirn, kratzte sich den Bart. Im Beisein von Besuchern fühlte er sich offenbar unwohl, vor allem, wenn es sich um FBI-Agenten handelte, die sich gut und gern von einem anderen Planeten in sein Wohnzimmer gebeamt haben könnten.
    Nancy reckte den Hals und musterte die Bilder, bis sie plötzlich die Augenbrauen hochzog und rief: »Ist das da ein de Kooning?« Sie deutete auf eine große Leinwand mit abstrakten Klecksen und Flecken in Primärfarben.
    »Sehr gut, junge Frau, so ist es. Kennen Sie sich mit Kunst aus?«
    »Das Bild ist wundervoll«, stieß sie aus. »Es muss ein Vermögen wert sein.«
    Will musterte das Gemälde mit zusammengekniffenen Augen. Für ihn sah es aus wie etwas, das ein Kind nach Hause brachte, damit man es an den Kühlschrank klebte.
    »Ja, es ist wirklich sehr wertvoll«, sagte Clive. »Willem hat es mir vor vielen Jahren geschenkt. Ich habe eine Komposition nach ihm benannt, und damit waren wir quitt, aber ich glaube, ich bin besser weggekommen.«
    Nach diesem Auftakt vertieften sich die beiden in ein Gespräch über moderne Kunst, ein Thema, von dem Nancy allem Anschein nach eine ganze Menge verstand. Will lockerte seinen Schlips, warf einen Blick auf die Uhr und horchte auf seinen knurrenden Magen. Es war ein langer Tag gewesen. Wenn Mueller kein Loch im Herzen gehabt hätte, säße Will jetzt daheim auf seinem Sofa, würde

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