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Die Namen der Toten

Die Namen der Toten

Titel: Die Namen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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anderen Gegenden von Manhattan.«
    »Sind Sie schon mal da gewesen?«
    Sie wurde leicht unsicher. »Also … nein.«
    »Woher wissen Sie das dann?«
    »Ich habe darüber gelesen, im New York Magazine , in der Times … «
    Im Gegensatz zu Will liebte Nancy die Stadt so sehr, dass es fast wehtat. Sie war am Stadtrand aufgewachsen, in White Plains. Ihre Großeltern wohnten nach wie vor in Queens. Es waren Polen mit starkem Akzent, die das Brauchtum der alten Heimat in Ehren hielten. In White Plains war Nancys Zuhause, aber die Stadt war ihr Laufstall gewesen, wo sie Musik und Kunst kennengelernt hatte, wo sie zum ersten Mal Alkohol getrunken, wo sie in ihrem Wohnheim am John Jay College für Strafrecht ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, wo sie an der Fordham University ihr Juraexamen als Beste ihres Jahrgangs bestanden und nach der Ausbildung in Quantico ihren ersten Job beim FBI bekommen hatte. Sie hatte weder die Zeit noch das Geld, um New York in vollen Zügen auszukosten, aber sie achtete darauf, dass sie den Finger am Puls der Stadt hatte.
    Sie überquerten den trüben Harlem River und tasteten sich zur West 140 th Street, Ecke Nicholas Avenue durch, wo sich der zwölfstöckige Gebäudekomplex befand, der durch das halbe Dutzend Streifenwagen vom 32. Polizeirevier in Manhattan North leicht zu erkennen war. Die Nicholas Avenue war breit und sauber und grenzte im Westen an einen schmalen, grünen Park, der die Pufferzone zwischen der Wohngegend und dem Campus des New York City College bildete. Die Gegend wirkte erstaunlich wohlhabend. Der selbstgefällige Blick, den Nancy ihm zuwarf, sollte offenbar so viel heißen wie: Ich hab’s Ihnen doch gesagt.
    Lucius Robertsons Apartment lag im obersten Stock, auf der dem Park zugewandten Seite. Von den großen Fenstern aus hatte man einen freien Blick auf den Nicholas Park, den Campus des Colleges, den Hudson River und die dichtbewaldeten New Jersey Palisades dahinter. In der Ferne wurde ein ziegelroter Frachtkahn, der etwa so lang wie ein Fußballplatz war, von einem Schlepper in Richtung Süden gezogen. Die Sonne glitzerte auf einem Teleskop, das auf einem Dreifuß stand, und Will verspürte den jungenhaften Impuls, durchs Okular zu gucken.
    Er widerstand und zeigte seine Dienstmarke vor, worauf ein Lieutenant von der Bezirkswache, ein stämmiger Afroamerikaner, der es kaum abwarten konnte wegzukommen, prompt rief: »Die Kavallerie ist da!« Die Cops in Uniform und die Detectives waren ebenfalls erleichtert. Sie hatten ihre Schicht längst überzogen und sehnten sich danach, den kostbaren Sommerabend besser zu nutzen. Kaltes Bier und Barbecues waren eher nach ihrem Geschmack als Babysitten.
    »Wo ist der Typ?«, fragte Will den Lieutenant.
    »Im Schlafzimmer, hat sich hingelegt. Wir haben das Apartment abgesucht. Hatten sogar einen Hund hier. Es ist sauber.«
    »Haben Sie die Postkarte?«
    Sie war eingetütet und gekennzeichnet. Lucius Jefferson Robertson, 384 West 140 th Street, New York 10030. Auf der anderen Seite waren der kleine Sarg und das Datum, 11. Juni 2009.
    Will gab sie Nancy und sah sich in der Wohnung um. Die Möbel waren modern, teuer, dazu zwei hübsche Orientteppiche, an den cremeweißen Wänden prangten allerlei Ölgemälde aus dem 20. Jahrhundert, wie in einer Galerie. Eine ganze Wand war mit gerahmten Schallplatten und CDs behängt. Neben dem Eingang zur Küche stand ein Steinway-Flügel, auf dessen Deckel sich Notenblätter stapelten. Ein Wandregal war mit High-End-Stereogeräten und Hunderten von CDs vollgestellt.
    »Was ist der Typ, Musiker?«, fragte Will.
    Der Lieutenant nickte. »Jazz. Ich hab noch nie was von ihm gehört, aber Monroe sagt, er ist berühmt.«
    Ein schmächtiger weißer Cop sagte wie aufs Stichwort: »Ja, er ist berühmt!«
    Nach einer kurzen Besprechung kam man überein, dass jetzt das FBI für die Sache zuständig war. Das Revier sollte über Nacht Vorder-und Rückseite des Gebäudes absichern, aber das FBI würde sich um Mr. Robertson kümmern und so lange auf ihn aufpassen, wie sie wollten. Jetzt mussten sie ihren Schützling nur noch kennenlernen. »Mr. Robertson«, rief der Lieutenant durch die Schlafzimmertür, »könnten Sie mal rauskommen, Sir? Das FBI ist hier und will Sie sprechen.«
    Durch die Tür erklang eine Stimme: »In Ordnung, ich komme.«
    Robertson sah aus wie ein müder Reisender, dürr und bucklig, als er in Hausschuhen, weiter Hose, Chambray-Hemd und einer dünnen gelben Strickjacke aus dem Schlafzimmer

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