Die Namen der Toten
sie ein paar Mal.
»Ein Wasser vielleicht?«
»Roz, bring Mr. Benedict ein Wasser, ja? Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Ich komme rüber zum Sofa.«
Im nächsten Moment tauchte eine junge Chinesin, eine weitere Schönheit, mit einer Flasche Evian und einem Glas auf. Hier ging alles sehr schnell.
»Sind Sie hergeflogen, Peter?«, fragte Bernie.
»Nein, ich bin mit dem Auto gefahren.«
»Schlau, sehr schlau. Eins sag ich Ihnen, ich fliege nicht mehr, jedenfalls nicht mit Linienmaschinen. Mir kommt es immer noch so vor, als wäre der 11. September erst gestern gewesen. Ich hätte selbst in einer dieser Maschinen sitzen können. Roz! Kann ich einen Tee kriegen? Sie sind also Autor, Peter. Wie lange schreiben Sie schon Drehbücher?«
»Seit etwa fünf Jahren, Mr. Schwartz.«
»Bitte! Bernie!«
»Etwa fünf Jahre, Bernie.«
»Wie viele haben Sie schon in der Schublade?«
»Sie meinen, wie viele ich fertig habe?«
»Ja, ja – abgeschlossene Projekte«, sagte Bernie ungeduldig.
»Das Manuskript, das ich Ihnen geschickt habe, ist mein erstes.«
Bernie kniff die Augen zusammen, als wollte er seiner Assistentin eine telepathische Nachricht zukommen lassen: Fünf Minuten! Keine zehn! »Und, taugt es was?«, fragte er.
Peter wunderte sich über die Frage. Er hatte den Text vor zwei Wochen geschickt. Hatte Bernie ihn nicht gelesen?
Peter betrachtete sein Manuskript als eine Art heilige Schrift, es war von einer geradezu magischen Aura durchdrungen. Er hatte seine Seele in dieses Werk einfließen lassen. Es lag stets auf seinem Schreibtisch, dreifach gelocht und mit glänzenden Messingklammern geheftet, sein erstes vollendetes Opus. Jeden Morgen berührte er beim Hinausgehen den Deckel des Ordners, so wie man ein Amulett betastet oder über den Bauch einer Buddhafigur streicht. Es war sein Fahrschein in eine andere Welt, und er wollte ihn unbedingt einlösen. Außerdem war ihm das Thema wichtig: eine Hymne, so sah er es, an das Leben und das Schicksal. Als Student hatte ihn Die Brücke von San Luis Rey tief bewegt, Thornton Wilders Geschichte von fünf Fremden, die gemeinsam auf einer einstürzenden Brücke umkommen. Deshalb beschäftigte er sich, als er in Nevada einen neuen Job antrat, mit den Themen Schicksal und Vorsehung. Er beschloss, eine moderne Version der Erzählung zu verfassen, in der sich die Lebenswege der Fremden im Augenblick eines Terroranschlags überschnitten.
Bernie bekam seinen Tee. »Danke, mein Schatz. Behalte meine nächste Besprechung im Auge, okay?« Roz entfernte sich aus Peters Blickfeld und zwinkerte ihrem Boss zu.
»Ja, also, ich glaube, es ist gut«, antwortete Peter. »Haben Sie schon einen Blick reingeworfen?«
Bernie hatte seit Jahrzehnten kein Drehbuch mehr gelesen. Andere Leute lasen für ihn Manuskripte und lieferten ihm Anmerkungen – Gutachten.
»Ja, ja, ich habe meine Notizen hier.« Er öffnete einen Ordner mit dem Gutachten zu Peters Text und überflog die zwei Seiten.
Schwache Handlung.
Schreckliche Dialoge.
Charaktere schlecht gezeichnet etc., etc.
Empfehlung: Ablehnen.
Bernie blieb seiner Rolle treu, lächelte breit und fragte: »Sagen Sie mal, Peter, wie kommt’s, dass Sie Victor Kemp kennen?«
Einen Monat zuvor war Peter Benedict mit hoffnungsvoll federnden Schritten ins Constellation gegangen. Es war einer der größten Vergnügungstempel, zu denen immer ein Hotel, diverse Restaurants und natürlich der Casinobetrieb gehörten. Er zog es allen anderen Casinos am Strip vor. Es war das einzige, das auch gewissen intellektuellen Ansprüchen genügte, und außerdem war er schon als Junge in die Astronomie vernarrt gewesen. Das Constellation hatte ein Kuppelplanetarium mit einer ständig wechselnden Laserdarstellung des Nachthimmels über Las Vegas, genau so, wie er aussehen würde, wenn man draußen nach oben blickte und jemand die Hunderte von Millionen Glühbirnen und die 15000 Meilen Neonröhren ausschalten würde, die das Sternenlicht unsichtbar machten. Wenn man genau hinschaute, oft genug herkam und Ahnung hatte, erkannte man im Lauf der Zeit mehr als 88 Sternbilder. Den Großen Wagen, Orion, Andromeda – ein Kinderspiel. Peter hatte auch die unbekannteren gefunden: den Raben, den Delphin, den Eridanus, den Sextant. Genau genommen fehlte ihm nur noch das Sternbild Coma Berenices, das Haar der Berenike, ein schwach leuchtender Sternenhaufen am nördlichen Himmel, zwischen den Canes venatici und der Jungfrau. Eines Tages würde er auch den noch
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