Die Namen der Toten
Mächte mit ungewissem Ausgang beschrieb.
Er hatte sich mit dem Konflux beschäftigt, genau wie seine Mitbrüder, doch er war davon überzeugt, dass er stärker davon beeinflusst wurde als die anderen. Allerdings beruhte diese Überzeugung allein auf seiner Vorstellung, da niemand offen über solche Angelegenheiten sprach.
Natürlich waren sie sich schon lange bewusst gewesen, dass der Tag kommen würde, aber die Vorahnungen hatten überhandgenommen, als im Monat Maius ein Komet aufgetaucht war, und jetzt, zwei Monate später, zog sein Flammenschweif noch immer über den Himmel.
Prior Josephus war aufgewacht, bevor die Glocke zu den Laudes rief. Er schlug seine grobe Bettdecke zurück, stand auf und erleichterte sich in den Nachttopf, dann sprengte er sich eine Handvoll kaltes Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht. Ein Stuhl, ein Tisch und eine Bettstatt mit einem Strohsack auf dem harten Erdboden. Das war seine fensterlose Zelle. Seine Kutte und die Ledersandalen bildeten seinen einzigen irdischen Besitz.
Und er war glücklich.
Mit vierundvierzig Jahren wurde er bereits kahl und ein bisschen fett, was von seiner Vorliebe für das starke Ale kam, das aus den Fässern der Klosterbrauerei floss. Seine beginnende Kahlheit erleichterte ihm die Pflege der Tonsur, sodass Ignatius, der Bader, einmal im Monat rasch mit ihm fertig war und ihn mit einem Klaps auf die Glatze und einem brüderlichen Zwinkern wegschickte.
Er war mit fünfzehn Jahren ins Kloster eingetreten und hatte sich als Oblate zunächst nur in den abgelegensten Teilen der Abtei aufhalten dürfen, bis er das Gelübde abgelegt hatte und zum vollwertigen Mitglied der Gemeinschaft geworden war. Sobald er dazugehörte, wusste er, dass er hier für immer leben und hinter diesen Mauern auch sterben würde. Seine Liebe zu Gott und den Mitbrüdern war so groß, dass er oftmals vor Freude weinte – was gelegentlich durch ein leichtes Schuldgefühl gedämpft wurde, wusste er doch, wie sehr er vom Glück begünstigt war, verglichen mit den vielen Unglückseligen auf der Insel.
Er kniete neben seinem Bett nieder und begann gemäß dem Brauch, den der heilige Benedikt selbst begründet hatte, sein Tagewerk mit dem Vaterunser, auf dass, wie Benedikt geschrieben hatte, »die Dornen der Zwietracht, die für gewöhnlich entspringen«, aus der Gemeinschaft gebannt würden.
Pater noster , qui es in caelis ,
sanctificetur Nomen Tuum ,
adveniat Regnum Tuum ,
fiat voluntas Tua …
Als er fertig war, bekreuzigte er sich, und in diesem Augenblick begann die Glocke des Klosters zu läuten. Die an einem dicken Tau im Turm hängende Glocke war vor fast zwei Jahrzehnten von Matthias hergestellt worden, dem Schmied der Gemeinschaft, einem guten Freund von Josephus. Matthias war schon vor langer Zeit an den Pocken gestorben, doch das melodiöse Schallen des Klöppels zwischen den getriebenen Eisenplatten erinnerte Josephus immer an das herzhafte Lachen des rotbäckigen Schmieds. Er wollte sich einen Moment lang der Erinnerung an den Freund hingeben, aber stattdessen ging ihm erneut das Wort Konflux durch den Kopf.
Vor den Laudes waren noch Pflichten zu erfüllen, und als Prior der Gemeinschaft musste er die Arbeit der Novizen und der jungen Mönche beaufsichtigen. Draußen vor dem Dormitorium war es angenehm kühl und noch stockdunkel, und als er die feuchte Luft einatmete, nahm er den Geruch der See wahr. In den Ställen warteten die Kühe mit prallen Eutern; als er hinkam, stellte er zufrieden fest, dass die jungen Männer bereits beim Melken waren.
»Friede sei mit dir, Bruder«, sagte er leise zu jedem einzelnen und berührte ihn im Vorbeigehen an der Schulter. Dann erstarrte er, als ihm auffiel, dass es sieben Kühe und sieben Männer waren.
Sieben.
Gottes geheimnisvolle Zahl.
Schon das Buch Genesis war voller Siebener: die sieben Himmel, die sieben Throne, die sieben Siegel, die sieben Kirchen. Die Mauern von Jericho fielen am siebten Tag der Belagerung. In der Offenbarung wurden sieben Geister von Gott zur Erde gesandt. Genau sieben Generationen lagen zwischen David und der Geburt Christi, des Herrn.
Und jetzt standen sie an der Schwelle zum siebten Tag im siebten Monat Anno Domini 777, der mit der Ankunft des Kometen zusammenfiel, den Paulinus, der Astronom der Abtei, argwöhnisch Cometes Luctus genannt hatte, Komet der Klage.
Und dann war da noch Santesa, das Weib von Ubertus, dem Steinmetz, die sich dem Ende ihrer beschwerlichen Zeit
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