Die Namen der Toten
ohnehin schon traumatisierten Studienanfänger mit ständigen Spötteleien und Beleidigungen bis aufs Blut zu quälen. Zeckendorf war nicht viel besser gewesen. Will hatte zwar nicht in dieselbe Kerbe gehauen, aber in gewisser Weise hatte der ihn sogar noch stärker enttäuscht.
Auf dem Foto stand Mark hölzern da und rang sich ein Lächeln ab, während Will ihm seinen kräftigen Arm um die Schultern gelegt hatte. Will Piper, der Glückspilz. Mark hatte das ganze erste Studienjahr über neidisch mit angesehen, wie mühelos ihm alles zufiel: Mädchen, Freunde, Spaß. Will war immer höflich und anständig gewesen, sogar ihm gegenüber. Wenn sich Dinnerstein und Zeckendorf gegen Mark verbündeten, entschärfte Will die Situation mit einem Witz oder verscheuchte sie mit einem Wink seiner Riesenpranke. Monatelang hatte Mark davon geträumt, dass Will ihm anbieten würde, auch im zweiten Studienjahr das Zimmer mit ihm zu teilen, damit er sich weiter in seinem Ruhm sonnen konnte. Doch dann war im Frühjahr, mitten im Semester, etwas Scheußliches vorgefallen.
Mark hatte im Bett gelegen und zu schlafen versucht. Die drei anderen Mitbewohner waren im Gemeinschaftsraum, tranken Bier und spielten laute Musik. Wütend hatte Mark durch die Tür gerufen: »Hey, ihr Blödmänner, ich habe morgen eine Prüfung!«
»Hat uns der Versager eben als Blödmänner bezeichnet?«, fragte Dinnerstein seine Freunde.
»Ich glaube, ja«, bestätigte Zeckendorf.
»Dagegen muss man etwas unternehmen«, versetzte Dinnerstein.
Will drehte die Stereoanlage leiser. »Lasst ihn in Ruhe.«
Eine Stunde später waren sie alle drei sturzbetrunken, völlig ausgelassen und auf Unsinn aus – ein Zustand, in dem man schlechte Ideen gut findet.
Dinnerstein schlich sich mit einer Rolle Isolierband in Marks Schlafzimmer. Der schlief fest, sodass Zeckendorf und Dinnerstein ihn mühelos ans obere Bett fesseln konnten, indem sie das Band ein ums andere Mal um ihn schlangen, bis er aussah wie eine Mumie. Benommen und mit einem dämlichen Grinsen sah Will ihnen von der Tür aus zu, unternahm aber nichts.
Als sie mit ihrem Werk zufrieden waren, tranken sie im Gemeinschaftszimmer weiter und amüsierten sich, bis sie auf den Boden rutschten, wo sie ihren Rausch ausschliefen.
Am nächsten Morgen wurde Will von dumpfen Schreien geweckt. Mit hämmerndem Schädel rappelte er sich auf und öffnete die Schlafzimmertür. Mark lag reglos im Bett, mit grauem Klebeband fixiert, das ihn wie ein Kokon umschloss. Tränen liefen über sein gerötetes Gesicht. Er richtete seine Augen auf Will. Hass und Enttäuschung sprachen aus seinem Blick. »Ich habe meine Prüfung verpasst«, sagte er. Und dann: »Ich hab mich vollgepinkelt.«
Will zerschnitt mit seinem Schweizer Offiziersmesser das Klebeband und murmelte verkatert und mit schwerer Zunge eine Entschuldigung, dennoch sprachen die beiden niemals mehr ein Wort miteinander.
Will hatte später bewundernswerte Leistungen erbracht und war berühmt geworden, während Mark bloß ein Leben lang geschuftet hatte, ohne dass jemand Notiz von ihm nahm. Ihm fiel ein, was Dinnerstein an jenem Abend in Cambridge über Will gesagt hatte: der erfolgreichste Serienkiller-Profiler in der Geschichte des FBI. Der Mann. Unfehlbar. Was konnten die Leute dagegen über ihn, Mark, sagen? Er kniff die Augen zusammen.
Die Dunkelheit löste irgendetwas in ihm aus. Gedanken bildeten sich, und da er einen raschen Verstand hatte, entstanden sie schnell. Und während sie noch Gestalt annahmen, versuchte ein anderer Teil seines Bewusstseins, sie zu unterdrücken, auszulöschen, bevor sie Schaden anrichten konnten.
Er schüttelte den Kopf so heftig, dass es schmerzte, ein dumpfes, pochendes Stechen. Es war ein primitiver Impuls, etwas, das ein Kleinkind macht, um böse Gedanken loszuwerden. So was darfst du nicht mal denken!
»Hör auf damit!«
Erschrocken stand er auf, als ihm klarwurde, dass er den Satz laut ausgerufen hatte.
Er ging hinaus auf die Veranda und sah zum Nachthimmel hoch, um sich zu beruhigen. Aber es war ungewöhnlich kühl für die Jahreszeit, und dünne Wolkenfetzen verdeckten die Sterne. Also kehrte er in die Küche zurück, setzte sich auf einen unbequemen Barhocker an die Anrichte und trank noch ein Bier. Je stärker er seine Gedanken zu unterdrücken versuchte, desto heftiger packten ihn Wut und Abscheu, erfassten ihn wie ein Strudel aus schwarzem Brackwasser.
Ein Höllentag, dachte er. Ein verdammt höllischer Tag.
Es war
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