Die Namenlose
Anhaltspunkt mochte folglich vorhanden sein. Leider entsann sie sich nicht.
Wieder zog Nebel auf.
Von allen Seiten kroch der Dunst heran wie ein alles verschlingender Moloch. Selbst aus dem Boden schien er emporzusteigen, um Gräser und Gesträuch zu verhüllen, sich gierig an den borkigen Stämmen der Bäume hinaufzuwinden zu deren Wipfeln und von dort wieder herabzustürzen, drohend und geheimnisvoll zugleich.
»Dieser Nebel kann nicht überall so dicht sein«, behauptete Burra. »Haltet euch unmittelbar hinter mir, damit wir uns nicht verlieren.«
Man sah kaum mehr die Hand vor Augen. Besser wäre es gewesen, zu rasten, doch Burra trieb die anderen unaufhaltsam vorwärts.
Irgendwann ließen sie den Hain hinter sich. Das Gelände fiel nun sanft ab. Kniehohes Gras wuchs hier, das es leichter machte, vorwärts zu kommen. Über allem lag ein diffuses Halbdunkel, weniger Licht als Schatten, verschwommene Helligkeit, die der Nebel mit sich brachte. Die Sonne war nicht einmal ein undeutlicher Fleck am Firmament.
»Hört ihr!« Unvermittelt blieb Burra stehen und lauschte. Die Geräusche hinter ihr verrieten, daß auch die anderen ihre Schritte verhielten.
Ein leises Plätschern lag in der Luft, kaum wahrnehmbar, aber zweifellos vorhanden.
»Vielleicht das Rinnsal, nach dem ich suche«, triumphierte die Amazone.
Der Nebel machte es fast unmöglich, die Richtung festzustellen. Das Murmeln einer Quelle schien mal in unmittelbarer Nähe, dann wieder - von einem Augenblick zum anderen - hundert Schritte und weiter entfernt.
Eine flüchtige Berührung an der Schulter ließ Burra herumfahren. Sie erkannte Gudun erst, als diese zu reden begann:
»Ich glaube, wir müssen rechts hinüber. Dort wird es lauter.«
Während sie sprach, schien das Geräusch zu wandern. Flüchtig war der Eindruck, daß es näher kam.
Ein gellender Schrei übertönte alles. Größte Verzweiflung drückte sich darin aus. Kein Zweifel, daß nur ein Tritone ihn ausgestoßen haben konnte.
»Kelar ist fort«, rief gleich darauf eine ängstliche Stimme. »Eben stand er noch an meiner Seite.«
»Seine Schuld, wenn er geht«, keifte Burra. »Ich habe gesagt, wir müssen zusammenbleiben.«
»Kelar ist nicht - gegangen. Etwas hat ihn geholt. Mir war, als streife mich ein Hauch des Bösen.«
»Verdammt. Ich habe nichts gespürt.«
»Wenn du erlaubst, werde ich nach ihm suchen.«
»Nein!« donnerte Burra. »Dieser Nebel ist so undurchdringlich, daß er kaum natürlichen Ursprungs sein kann. Wir werden unserem Gegner nicht den Gefallen tun, ihm einzeln gegenüberzutreten.«
Abermals erklang ein klagender Schrei. Aus weiter Ferne schien er nun zu kommen, unerreichbar für jeden, der ihm nachzueilen suchte.
Es wurde rasch dunkel. Erstickend legte die Finsternis sich über die Insel. Niemand wußte zu sagen, ob es wirklich an der Zeit war, daß die Sonne im westlichen Meer versank. Gefühlsmäßig mochte es erst zur Mitte des Nachmittags hin sein, doch was bedeuteten Gefühle inmitten einer Umgebung, die jeden Schritt zum Wagnis werden ließ.
»Wir bleiben hier!« entschied Burra. »Irgendwann muß diese bleierne Schwärze wieder weichen.«
*
Es wurde eine unruhige Nacht, in der kaum jemand wirklich Schlaf fand.
Schaurige Töne hallten über Ngore hinweg und brachen sich verzerrt zwischen den Klippen. Als wären die Geister all jener erwacht, die an den Riffen des Nassen Grabes den Tod fanden.
Gegen Morgen setzte ein leichter Nieselregen ein, der auch dann noch anhielt, als die Dämmerung sich ankündigte. Burra befahl den Aufbruch.
Zehn, zwölf Schritte weit reichte zunächst die Sicht. Unmöglich, unter diesen Umständen bestimmte Merkmale des Geländes zu erkennen.
Drückend schwül war es. Aber allmählich gewöhnte man sich daran, daß der Schweiß in Strömen aus allen Poren brach. Mythor beneidete die Amazonen nicht, die ihre Rüstungen trugen.
Einmal schien das Meeresrauschen ganz nahe, dann wieder kehrte Stille ein. Es mußte wohl der auffrischende Wind gewesen sein, der die Sinne genarrt hatte. Allerdings war Ngore nicht so groß, daß man lange Zeit umherirren konnte ohne über kurz oder lang auf die Küste oder die alten Tempelanlagen zu stoßen.
Endlich war die Sonne stark genug, den dichten Dunstschleier über der Insel aufzureißen. Sie stand bereits hoch im Mittag.
Nicht weit voraus zeichneten sich die Umrisse eines Wäldchens vor dem hellen Hintergrund ab. Als man näher kam, zeigten sich knorrige alte Bäume mit weit
Weitere Kostenlose Bücher