Die Nanowichte
mit dieser uralten Methode zur Klufttiefenbestimmung kein Ergebnis erzielt wurde, das lag einfach daran, daß nie ein Aufschlaggeräusch zu hören war. Manchen Axolotianern war dies ein Zeichen dafür, daß die Kluft mehr als tausend Fuß tief war; anderen, daß sie unendlich tief bis in die Abgründe der Hölle hinabreichte; wieder anderen, daß ein Dämon, ein steinefressender Salamander, die Steinbrocken verschlang, bevor sie irgendwo hätten aufschlagen können. [6]
Genau dorthin, an den Rand dieser von der Natur geschaffenen Kluft, an die einzige Stelle, an der eine Hängebrücke über den Graben führte, hetzten die Nanowichte den rot angelaufenen keuchenden Quintzi.
»Los! Über die Brücke!« zischten sie in seinem Ohr.
»Da … da rüber?« Quintzi zitterte. Er starrte auf die drei schlaff durchhängenden Seile, die über den Abgrund ›gespannt‹ waren: eines für die Füße, zwei für die Hände. Die Verankerungspfähle waren an der Basis von allerlei Unkraut überwuchert; unter anderem wuchs dort auch eine interessante Ansammlung jener Baumschwämme, die sich gern auf morschem Holz ansiedeln. »Aber die ist doch baufällig«, bibberte Quintzi, der sich ganz sicher war, daß er eben einen Sägemehlschauer herabrieseln gesehen hatte, als eine Kolonie Borkenkäfer der gefräßigeren Art die Kauwerkzeuge ins Holz geschlagen und sich in einen Pfosten gebohrt hatte. »Viel zu gefährlich, da rüber zu …«
»Während du hier sicher und ungefährdet bist, was?« johlten die Nanowichte, als der lynchwütige Mob immer näher rückte. »Los! Rauf auf die Brücke! Verlaß dich auf uns! Es ist dir vorherbestimmt.«
»Ich weiß nicht so recht, ob ich mich freuen soll, wenn ihr das sagt. Denkt bloß dran, was beim letzten Mal passiert ist!« Quintzi meinte, tief drinnen in seinem Ohr ein leises Glucksen zu hören. Ob es tatsächlich so war? Schwer zu sagen bei dem Krach, den er mit seinem Geschnaufe veranstaltete: Er keuchte und japste so laut wie ein Traktor. Ein gepflegtes Glas Bier, ein Liegestuhl und eine aufmerksame, notfalls auch spärlich bekleidete Maid, die ihm die schweißnaße Stirn fächelte: Das wäre es gewesen! Das hätte er jetzt vertragen können! Vier Stunden lang! Dann wäre er bereitwillig über wacklige Hängebrücken gekrabbelt.
Plötzlich ließ die Wirklichkeit seine Hirngespinste platzen. Sie brachte sich in Form eines ziemlich großen Steins in Erinnerung, der nur knapp – äußerst knapp! – über die kahle Stelle auf seinem Kopf hinwegpfiff. Der Rambo, der mit Steinen um sich schmiß, hatte mittlerweile anscheinend dazugelernt. Oder war näher gekommen. Oder beides. Quintzi war nicht übermäßig daran interessiert, welche der drei Möglichkeiten zutraf. Er beneidete Tiemecx um seine Flügel und stieg auf die dreiphasige Brücke. Erstaunlich, was blinde Panik und wüstes Stimmengewirr im Kopf bewirken können, wenn es darum geht, einen todmüden Menschen auf Trab zu bringen!
Mit wild zappelnden Beinen und zitternd vor Erschöpfung wackelte er über den Großen Spalt und spottete tollkühn den unerbittlichen Kräften der Gravitation. Er versuchte mit aller Macht, nur ja nicht an Schrecken zu denken, die dort unten lauerten, und wünschte sich sehnlichst, daß ihn ein wenig mehr als diese drei unsäglichen, mottenzerfressenen, altersschwachen Stricke davor bewahren würden, daß er herausfände, um welche Schrecken es sich dabei im einzelnen handelte.
»Schneller!« Die Nanowichte malträtierten die empfindliche Membran in seinem Ohr mit rasenden Trommelwirbeln. »Mach schon! Dalli, dalli!«
Quintzi grunzte, keuchte und schlurfte ängstlich weiter. Hinter ihm tauchten jetzt ein paar von den flinkeren Mitgliedern der Meute am Rande der Kluft auf, fuchtelten mit Prügeln und Felsbrocken, brüllten widerliche Beschimpfungen und rannten auf die Brücke zu.
»Schneller!« schrien die Nanos.
»Ich kann nicht!« japste Quintzi. »Meine Arthritis!« fauchte er, hangelte sich mit festem Griff am rechten Seil entlang und stürmte im Schlapfschritt voran. Er blickte konzentriert und starr auf die gegenüberliegende Seite. Daß sich, wie er ganz sicher glaubte, das Seil vor ihm aufdröselte, beachtete er nicht weiter. Ein Schweißtropfen perlte ihm über die Stirn. Quälend langsam schaukelte und zitterte er sich arthritisch über den Großen Spalt, auf verzweifelter Flucht vor dem rasenden Mob, der unerbittlich näher rückte. Und dann setzte er den Fuß auf festen Grund. Auf harten Fels:
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