Die Nanowichte
Noch nie hatte es ihm eine so große Freude bereitet, festen Boden unter seinen Treterchen zu spüren. Er hätte ihn am liebsten geküßt, hätte am liebsten die Lippen geschürzt und einen schnalzenden Schmatz auf den kahlen Sandstein gedrückt. Doch ehe er dieser pontifikalen Anwandlung nachkommen konnte, ging er in die Knie.
»Was machst du denn da? Du sollst abhauen!« schrie eine Stimme in seinem Kopf. »Fliehen sollst du! Die Düse machen!«
Quintzi lag ihm Staub und schnappte nach Luft, so jämmerlich wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Sie sind schon auf der Brücke!« hämmerten die Nanowichte auf das Trommelfell. »Sie kommen! Zum letzten Mal: Zisch ab!«
»Ich ka … kann ni …«
Doch dann funkte es plötzlich: Ein Geistesblitz zuckte durch Quintzis wirren Kopf; eine Idee, die alle jene scheußlich blutroten Bilder verdrängte, die Vorstellungen davon, was in den nächsten fünf Minuten (den voraussichtlich letzten fünf Minuten seines Lebens) mit ihm geschehen würde, falls er nicht irgend etwas unternahm. Es war vielleicht keine sehr erfolgversprechende Idee … Die Wahrscheinlichkeit, daß es klappen könnte, lag bei etwa maximal eins zu einer Million … Aber möglicherweise könnte es doch …
»Wenn ihr alles genau so macht, wie ich es euch sage, dann passiert nichts!« schrie Quintzi und zog sich an einem Brückenpfahl hoch. »Stopp! Keinen Schritt weiter, wenn euch euer Leben lieb ist!«
»Wenn uns dein Leben lieb ist, meinst du wohl!« schrie Miesly drohend. »Ob’s das ist, wirst du gleich sehen, wenn ich dich zu fassen kriege!«
»Zurück!« brüllte Quintzi, als Miesly einen Fuß auf das Seil setzte. »Das ist lebensgefährlich!«
»Für dich vielleicht!« brüllte Miesly wutschnaubend zurück und tat wieder einen Schritt.
»Nein! Runter von der Brücke! Ich hatte eine Vision. Ich sehe sie einstürzen, ich sehe Seile durch die Luft peitschen, ich sehe Menschen in den unendlich tiefen Abgrund stürzen, ich höre Schreie … und zwar in genau dreißig Sekunden!« schrie Quintzi und bohrte wie toll mit dem kleinen Finger im Ohr. »Hört ihr überhaupt zu da drinnen?« knurrte er leise. »War das Ding mit der Scheune etwa eine einmalige Sache, hä? Los, macht endlich!« Er fuhrwerkte so wild mit dem Finger im Ohr herum, als ginge es darum, eine Biene herauspulen.
Als die Leute diese Worte hörten, als sie den wahnsinnigen Scheunenzerstörer zappeln und sich winden sahen, wichen einige von ihnen einen halben Schritt zurück. Alle hatten sie beim Anblick der schwelenden Überreste der Scheune die Gerüchte von Quintzi Cohatls Vernichtungsakt gehört, selbst in die Welt gesetzt und weiterverbreitet: Gerüchte von Stichflammen, die aus seinen Fingern gelodert waren, Gerüchte von seinem Flug durch die Luft … Wenn er das alles mit einer Scheune anstellen konnte, was würde er dann erst mit einer Hängebrücke anstellen? Zweifel befiel die Massen.
»Scheint mir aber recht stabil zu sein!« brüllte Miesly und federte auf den gespannten Seilen auf und ab.
»Zurückbleiben! Ihr rennt in euer Verderben!« schrie Quintzi. »Tun sie doch, oder?« flüsterte er und bohrte im Ohr.
»Das kannst du deiner Oma erzählen!« schrie ein Unerschrockener.
»Ich warne euch! Es geht mir nur um euch, ihr begebt euch in größte Gefahr!« antwortete Quintzi. »Ich bin der letzte, der diese Brücke überqueren konnte! Niemand darf mir folgen! Hört auf meine Worte, sonst werdet ihr in den bodenlosen Abgrund geworfen, der vor euch liegt!«
»Ach, hör schon auf damit!«
»Ich warne euch! Nur eine halbe Minute noch, dann baumeln drei zerschlissene Seilstücken dort unten im Dunkel«, knurrte Quintzi. »Oder?« winselte er die Nanowichte an. »Macht doch endlich, Jungs, und fangt an zu knabbern oder was ihr sonst immer tut! Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
»Eine halbe Minute? Danke für den Hinweis«, fauchte Miesly. »Höchste Zeit. Greifen wir ihn uns, Jungs! Attacke!«
Quintzis Exboß war mit einem Satz an den Seilen und machte sich schwankend an die Überquerung der abgrundtiefen Kluft. Nur der über alle Maßen verängstigte Quintzi sah, wie drei winzige grüne Lichtpünktchen aus seinem Ohr sausten, auf die Brücke zuflitzten und im Gewebe des Trittseils verschwanden. Innerhalb von Sekunden begann das Seil unheilvoll zu knarzen: Die Nanowichte machten sich daran, die Fasern aufzudröseln, und rissen und zerrten sie auseinander.
Miesly, der fünf Fuß hoch über der Kluft stand, warf sich auf der
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