Die Narbe
gehangen, doch er hing an einer Erinnerung an einen ganz bestimmten Moment mit Nele. Er hatte sie kennengelernt, als er in einem Reisebüro einen Wochenendtrip buchen wollte, nachdem er in dem Monat davor über hundert Überstunden geschultert hatte und vollkommen ausgebrannt gewesen war. Nele, die damals als Reisebürokauffrau arbeitete, hatte ihm ein schönes kleines Hotel in Barcelona empfohlen. Er hatte eingewilligt – und war überrascht gewesen, als er sie an dem Wochenende in demselben Hotel als Gast wiedersah. Sie hatte erklärt, dass sie inkognito gelegentlich eine Reise buche, um die Standards zu überprüfen. Er hatte ihr geglaubt, weil er sich – obwohl das Beratungsgespräch im Reisebüro länger und persönlicher verlaufen war als üblich – nicht hatte vorstellen können, dass jemand tatsächlich so etwas Verrücktes tun würde, nur um ihn wiederzusehen. Aber genau das war ihre Intention gewesen, wie sie ihm zwei Wochen nach der Rückkehr in seiner Wohnung gestanden hatte, um Mitternacht, in seinem Bett. Sie hatte, wie sie freimütig erklärte, nicht gerade wie eine Nonne gelebt, aber er sei der erste Mann gewesen, den sie sich als Vater ihrer Kinder hätte vorstellen können. Während dieses Geständnisses hatte sie mit den Fingerkuppen der linken Hand seinen Bart gestreichelt. Nie zuvor hatte er sich einer Frau so nahe gefühlt.
Nele war mit Severin ins Wohnzimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Gerald zog sich bis auf die Unterhose aus, löschte das Licht und legte sich ins Bett. Minuten später hörte er, wie Nele sanft flüsternd ins Bad ging. Wenn sie flüsterte, war Severin noch wach, aber die ruhigen Laute würden den Kleinen bald in den Schlaf tragen. Die Tatsache, dass er weder vor noch nach dem Stillen geschrien hatte, zeigte, wie erschöpft er nach der überstandenen Ohrenentzündung war. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Nele mit ihm ins Schlafzimmer kam. Sie legte ihn vorsichtig in das Kinderbett, zum ersten Mal seit Wochen. Sie hatte ein neues, dunkelblaues Nachthemd angezogen, eines, das bis über die Knie ging. Wegen der Schwangerschaftsstreifen an den Oberschenkeln, vermutete er.
Nele legte sich mit dem Rücken zu ihm. Sie suchte sich ihre vertraute Einschlafposition, nahm seine rechte Hand, küsste die Fingerkuppen und sagte leise: »Ich liebe unser Leben . Ich liebe uns. Ich liebe dich.«
Gerald spürte nichts als seine Erektion. Sie schien ihm in diesem Moment größer als je zuvor, bis zum äußersten Punkt gefüllt mit seinem Verlangen, seiner Sehnsucht und seinem Schmerz. Er schmiegte sich an seine Frau. Als sein Schwanz gegen ihren Po stieß, zuckte sie zurück wie nach einem elektrischen Schlag. Dann bewegte sie sich ebenso sanft wie bestimmt von ihm weg. Sie küsste noch einmal die Finger seiner rechten Hand und legte sie dann, zur Untätigkeit verdammt, zwischen ihre eigenen, auf den Bauch.
Er fühlte sich auf eine brutale Weise ernüchtert. »Wie lange soll das noch so gehen? Seit mindestens einem halben Jahr ist mein Schwanz nur noch über einer Kloschüssel aktiv«, sagte er. Ihm wurde bewusst, wie betrunken er war. Sie atmete schwerer. »Gerald, es ist nicht gegen dich gerichtet. Ich bin müde. Morgens, mittags, abends, nachts. Immer. Und ich bin einfach nicht erregt, wenn ich müde bin. Gib mir noch etwas Zeit. Es kommt von selbst wieder, glaub mir. Außerdem …«
»Außerdem was?« Geralds Hände hatten Neles Antwort offenbar noch nicht mitbekommen, denn sie bewegten sich sanft und zugleich fordernd über ihre Oberschenkel und ihren Po.
»Es ist so schwer auszudrücken. Manchmal fühle ich mich so, als hätte Severin niemals meinen Bauch verlassen oder, besser gesagt, als gäbe es zwei von ihm. Der eine liegt gerade in seinem Kinderbett und schläft, und der andere ist immer noch in meinem Bauch. Es ist so, als wäre ich immer noch voll von meinem Baby.«
»Nele, ich kann mit diesem Gequatsche einfach nichts anfangen. Lass es doch einfach mal laufen. Vielleicht kommt der Appetit ja beim Essen. »
Sie küsste noch einmal seine Fingerspitzen und legte seine rechte Hand auf ihren Bauch. Dort hatte sie so oft gelegen, dass sie eigentlich schon einen Abdruck auf der Haut hätte hinterlassen müssen.
»Ich bin zu müde, Gerald. Bitte.«
4
Bei der Morgenbesprechung fiel der Name Alexander Faden kein einziges Mal. Es war eine jener Besprechungen, die Gerald die »Abnick-Runde« nannte, weil sich Polizeipräsident Dr. Vordermayer von
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