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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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vorstellen können, dass er Selbstmord begeht?«
    Sie griff erneut zur Zigarettenpackung, legte sie dann aber nach kurzem Zögern zurück, ohne eine Zigarette herausgenommen zu haben.
    »Nein. Niemals. Aber vielleicht hatte er Liebeskummer oder so. Wenn man keine Kinder hat und noch so jung ist, dann ist man vielleicht anfälliger für so etwas. Bei mir war es jedenfalls früher so. Drogen hat er keine genommen, zumindest kann ich mir das nicht vorstellen. In der letzten Zeit ging es ihm gut, wirklich. Deshalb …«
    »Waren Sie vorgestern Abend zuhause?«
    »Ja, mit meiner Tochter. Wir haben ferngesehen. Ich habe nur eine Art Schlag gehört, draußen, auf der Straße. Dann rief jemand um Hilfe. Ich bin ans Fenster und habe den Alexander da liegen gesehen. Danach war ich eigentlich nur damit beschäftigt, meine Tochter zu beruhigen und vom Fenster wegzuhalten.«
    Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Sie versuchte gar nicht erst, es zu verbergen. Die Tränen liefen über ihr ungeschminktes Gesicht und ließen das Konturenlose, leicht Teigige noch deutlicher hervortreten. Sie bewegte sich immer noch nicht, suchte auch nicht nach einem Taschentuch. Sie verschränkte lediglich die Arme vor der Brust und krampfte die Hände in den Kragen des Bademantels.
    Dann stand sie plötzlich auf und verließ, ohne etwas zu sagen, das Wohnzimmer. Gerald blieb sitzen; er schaute sich um, aber es gab nichts in diesem Raum, was zu einem zweiten Blick einladen würde. Auf der hellen Raufasertapete hingen zwei Poster von Harry-Potter-Filmen. Auf den Fensterbrettern standen Topfpflanzen.
    Als Marleen Kattowitz zurückkam, waren ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen und ihre Füße nackt. Sie blieb mitten im Raum stehen. »Wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben …«, sagte sie und deutete mit einer Kopfbewegung auf den PC. »Ich müsste nämlich anfangen, meine Miete zu verdienen.«
    Gerald erhob sich. Er wusste, dass er an diesem Tag nichts mehr von ihr erfahren würde.
    »Es mag sein, dass ich vor dem Abschlussbericht noch einmal vorbeikommen muss. Aber das kann noch einige Tage dauern. Ich lasse Ihnen meine Visitenkarte hier. Wenn Ihnen also noch etwas einfällt oder Sie in den kommenden Tagen eine außergewöhnliche Beobachtung machen, rufen Sie mich bitte sofort an.«
    Sie begleitete ihn wortlos zur Tür. Die nackten Füße machten ein schmatzendes Geräusch auf dem Linoleum im Flur.
    Gerald stieg langsam die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss blieb er stehen und lauschte an der Tür von Müllersohns Wohnung. Er hörte die überdeutlichen Geräusche des Fernsehers. Der Hausmeister schien leicht schwerhörig zu sein. Bei dieser Lautstärke konnte er definitiv nicht mitbekommen haben, was sich im Hausflur abgespielt hatte. Vielleicht hatte er es auch nicht gewollt, der ehemalige Polier Müllersohn, der nur noch seine Ruhe wollte, für sich und den ewig laufenden Fernseher.
    Er öffnete die Tür zum Innenhof. Er war nicht besonders groß. Auf der linken Seite befand sich ein überdachter Stellplatz für Fahrräder, auf der rechten Seite ein großer Abfallcontainer und mehrere farbige Tonnen. Ein Bettkasten, eine durchfeuchtete Matratze, eine Kommode und das Gerippe eines Lattenrostes waren an der ihm gegenüberliegenden Wand abgestellt. Davon abgesehen machte der Innenhof einen sauberen Eindruck. Die Steinmauer war nicht höher als zwei Meter. Von hier aus konnte man in die Innenhöfe weiterer drei Häuser gelangen. Ein Flüchtender hätte selbst in der abendlichen Dunkelheit leicht über die Mauer entkommen können.
    Gerald wollte schon umkehren, als er auf dem Boden neben dem Bettkasten etwas blinken sah. Vielleicht eine Schraube oder ein Metallstück, auf das die Vormittagssonne fiel. Gerald ging zu der Stelle und beugte sich hinunter. Da lag, ganz nah an der Mauer, halb verborgen in einem kleinen, noch feuchten Staubhaufen ein Messer. Nein, kein Messer – es handelte sich eindeutig um ein Skalpell, wie Gerald es viele Male in der Gerichtsmedizin gesehen hatte. Sofort stieg der schwere, unangenehm süßliche Obduktionsgeruch in seine Nase. Gerald schüttelte sich unwillkürlich, dann nahm er das Skalpell vom Boden. Der heftige Regen der vergangenen Nacht hatte mögliche Fingerabdrücke auf dem schmalen, blauen Griff sicher abgewaschen. Die Klinge selbst sah aus wie neu.
    Gerald umwickelte die Klinge mit einem Taschentuch und steckte das Skalpell in die Innentasche seines Jacketts. Er suchte den Boden entlang der

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