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Die Narbe

Die Narbe

Titel: Die Narbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schmitter
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ins Wohnzimmer. Er fühlte, wie sich Trauer und eine diffuse Wut in ihm ausbreiteten. Was war nur mit Nele passiert? Früher hatte sie ihn, der zur Übervorsicht und zum Abwarten neigte, mit ihrer Spontaneität mitgerissen; sie hatte ihn an einem Sonntagmorgen um vier Uhr geweckt, um mit ihm spazieren zu gehen und anschließend wunderbaren Sex zu haben. Sie hatte Pläne als Fessel betrachtet, sie hatte das ganze Leben als einen einzigen Last-Minute-Trip gelebt. Mit Severins Geburt war die Welt ein verdächtiger Ort voller verborgener Gefahren geworden. Ein Teppich diente nicht zur Verschönerung eines Raumes, sondern als Brutstätte gefährlicher Bakterien. Ein Löffel war nicht länger nur ein Löffel, sondern ein Gegenstand, der Severins Mundraum Verletzungen zufügen konnte. Die Temperatur im Zimmer war zu hoch oder zu niedrig, das Essen zu kalt oder zu heiß. Als ob das Baby, dachte Gerald, während der Schwangerschaft Neles ursprüngliche Persönlichkeit gleichsam deformiert hätte.
    Auf dem bequemen Ledersessel neben dem Bücherregal lagen eine Großpackung Windeln und eine Informationsbroschüre aus der Apotheke, die eine Mutter in Sorge zeigte: Ab wann darf ich zufüttern? Ein Ratgeber . Alle Mütter waren ständig in Sorge, die ganze Welt gab Ratschläge. Gemessen an dem Aufwand, den wir betreiben, muss die Kindersterblichkeit der vorigen Generationen zwischen 95 und 98 Prozent betragen haben, dachte Gerald. Er versuchte, einen Platz für die Windeln zu finden, aber das war selbst im Wohnzimmer nicht einfach. Sie hatten es nicht mehr geschafft, vor Severins Geburt eine größere Wohnung zu finden – genauer gesagt, eine Wohnung, die wegen möglicher giftiger Teppichkleber oder sonstiger verdächtiger Stoffe und Materialien kein Veto bei Nele provoziert hätte. Nun waren ihr Schlaf- und ihr Wohnzimmer zu einem doppelten Kinderzimmer mutiert.
    Gerald schob eine CD in den Spieler. Miles Davis: Kind of Blue . Eine sanft pulsierende Musik, die irgendwo in der Ferne begann und irgendwo in der Ferne aufhörte. Er schloss die Augen und fuhr in einem offenen Wagen über eine endlose Straße. Einfach nur fahren, an nichts denken, nur unterwegs sein.
    Aber plötzlich war da Alexander Faden im Blickfeld. Er sah ihn tot vor sich auf der Straße liegen, den Armstumpf mit der seltsamen Narbe. Da passt einiges nicht zusammen, dachte er, die wohlgeordnete Wohnung, Müllersohns Beobachtungen und die Ansichten des Psychotherapeuten. Gerald musste zumindest noch mit der anderen Nachbarin sprechen. Allein. Es war ein Fehler gewesen, Batzko ins Boot zu holen. Der wollte der Staatsanwaltschaft nur möglichst rasch die Akten zuleiten, um von denen ein Fleißkärtchen zu kriegen. Für Batzko war Gerald immer schon ein Träumer gewesen.
    Die Haustür wurde aufgeschlossen. Nele rief ein »Ja, ist der Papa schon da?« in den Flur, Severin krächzte einen Begrüßungslaut. Als Gerald die beiden sah, wurde er von einer Welle der Liebe mitgerissen. Nele, deren Wangen von der Anstrengung leicht gerötet waren, gab ihm einen Kuss, der nicht flüchtig, sondern bewusst und innig war. Severin strahlte ihn an, ließ sich in die Umarmung fallen, was nicht selbstverständlich war. Gerald drehte sich mit seinem Sohn im Kreis, bis ihn Nele mit einem Hinweis auf die Ohrenentzündung bat, vorsichtiger zu sein. Es ärgerte ihn, aber er war in diesem Moment glücklich genug, um über Neles mantra-artige Ermahnungen hinwegzusehen.
    »Es tat irrsinnig gut, endlich rauszukommen. Und dann noch bei diesem Wetter! Severin hat geschlafen und gestrahlt, geschlafen und gestrahlt. Ein Traum, sage ich dir.«
    Erst jetzt sah er, dass sie auch eingekauft hatte. Sie stellte die Tüte auf den Küchentisch, holte tief Atem und pustete ihrem Mann und ihrem Sohn im Flur über ihrer ausgestreckten Handfläche einen Kuss zu.
    »Kannst du ihn umziehen? Ich habe Fleisch für uns gekauft und Salat. Ich fühle mich wie neugeboren. Heute Abend müssen wir einfach feiern.«
    Gerald legte seinen Sohn auf den Wickeltischaufsatz, der auf der Badewanne postiert war, und während er ihn auszog, griff Severin nach dem Zipfel seines Jäckchens und nuckelte daran. Er strahlte immer noch, seine Augen schienen größer als seine Fäuste. Das reine Glück. Auch Männer, die Väter werden, durchleben tiefgreifende Veränderungen, dachte er. Konnte er das nicht akzeptieren und war deshalb so reizbar und überfordert? Und machte er deshalb Nele für alles verantwortlich, wenn es nicht gut

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