Die Narbe
lief zwischen ihnen?
Severin brauchte eine neue Windel. Gerald wusch ihn vorsichtig mit lauwarmem Wasser. Das Baby hatte, während Gerald ihm den Strampler über die Windel zog, die Schnur des Heizstrahlers entdeckt und hielt sie fest in seinen Händchen. Der Heizstrahler war einer der ersten Streitpunkte in der »Wir-machen-aus-unserer-Wohnung-eine-perfekte-Kinderwelt«-Phase gewesen. Severin kam Ende März auf die Welt, es herrschten bereits milde Temperaturen. Das Bad war klein, die Heizung funktionierte perfekt – aber jedes Argument hatte versagt vor der Tatsache, dass Babys in den ersten drei Monaten noch über keinen inneren Temperaturausgleich verfügen. Nele hatte auf einen Heizstrahler mit Dreistufenregelung bestanden, ein Elektriker hatte ihn an der Decke angebracht und das mitgelieferte Kabel durch ein längeres ersetzt, damit sie ihn an die Türsteckdose anschließen konnten. Sie hatten ihn summa summarum vielleicht fünf Mal angeschaltet, bald würde er den Weg in den Keller finden und später auf den Sperrmüll.
Gerald zwang sich, nicht daran zu denken, und das schien auch für Severin zu gelten, der sich die Schnur ohne Protest aus den Fäusten nehmen ließ. Bravo, genießen wir einfach nur diesen Abend, flüsterte Gerald in Severins Ohr, und vielleicht auch diese Nacht.
Er trug ihn auf seinen Armen in die Küche, wo Nele gerade den Salat wusch. Sie hatte sich in der Zwischenzeit bereits umgezogen – eine Latzhose, die sie schon während der Schwangerschaft getragen hatte. Sie versank in ihr; Gerald hatte vorsichtig angedeutet, dass sie in diesem Kleidungsstück auf ihn wirke, als wäre sie dauerhaft schwanger, und er das eigentlich hinter sich lassen wollte. Aber Nele hatte darauf bestanden, weil sie praktisch war und weil sie nicht einsah, warum sie ihre normalen Klamotten durch Severins Spuckflecken versauen sollte.
Gerald legte Severin in die Wippe auf dem Küchentisch und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Abendessen. Nele stellte sogar eine Flasche Rotwein auf den Tisch. Es schien tatsächlich sein Abend zu werden. Er fühlte sich wie euphorisiert. Das ist die Wende, dachte er, nach den langen dürren Monaten. Wein, ein gutes Abendessen und später im Bett übereinander herfallen, während Severin tief und fest schlafen würde. Severin, der die Bewegungen um ihn herum mit konzentrierter Aufmerksamkeit verfolgte. Immer wieder brabbelte er etwas, als versuchte er das, was er sah, mit einem Namen zu versehen. Gerald hätte ihn am liebsten vor Übermut in die Backen gebissen.
Die Steaks waren perfekt. Er aß mit so großem Appetit, dass Nele ihm die Hälfte ihrer Portion abgab. Mehrmals schenkte sie ihm nach, sodass er schließlich vier Gläser des schweren Weins getrunken hatte.
»Mein Gott, ich bin tot«, sagte sie unvermittelt, legte das Besteck neben den Teller und streckte ihren Rücken. »Severin wollte ständig getragen werden. Ich spüre jeden einzelnen Wirbel.«
Gerald betrachtete sie aufmerksam. Ihr Gesicht und ihr Körper trugen noch die Spuren der Schwangerschaft und der unerwartet schwierigen Geburt. Sie hatte ein schmales Gesicht, dessen Ebenmäßigkeit durch ihre kurzen Haare unterstrichen wurde. Auch ihre Nase und ihr Mund waren schmal, aber nicht zu schmal.
Die Zeit, die sie nach der Geburt vor dem Spiegel zubrachte, war länger geworden, und ihr Gesichtsausdruck besorgter und unglücklicher, wenn sie geschminkt aus dem Bad kam. Dass sie ihr vertrautes Körpergewicht noch nicht wieder erreicht hatte, störte ihn nicht (und er sagte in diesem Punkt die reine Wahrheit), aber das konnte die befremdliche Distanz, die sie zu ihrem eigenen Körper aufgebaut hatte, nicht aufheben.
»Machst du die Küche, und ich lege Sevi an? Er soll trinken und trinken, damit er zwei Tage durchschläft.«
Das war das Stichwort. Als Gerald die Teller in die Spülmaschine räumte, stellte er fest, dass er schwer angetrunken war. Der Alkohol rumorte in seinem Kopf. Er verzichtete auf den üblichen Espresso nach dem Abendessen, weil er sich müde und aufgekratzt zugleich fühlte. Und erregt.
Wenige Minuten, nachdem er die Küche aufgeräumt hatte, ging er ins Bad, putzte sich die Zähne und spülte den Weingeschmack aus dem Mund. Das Gesicht im Spiegel war ihm immer noch ein wenig fremd. Am Tag vor Severins Geburt hatte er sich den Vollbart abrasiert, um die empfindliche Haut seines Sohnes nicht zu reizen, wenn er ihn küsste oder mit ihm spielte. Er hatte nie sonderlich an dem Bart
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