Die narzisstische Gesellschaft
Wunde verhüllt. Mitläufertum und Mittäterschaft sind vor allem Selbstheilungsbemühungen, die im Fanatismus Suchtcharakter annehmen. Auf diese Weise können wir sogar bei den höchst unterschiedlich zu bewertenden deutschen Gesellschaftssystemen der letzten acht Jahrzehnte vergleichbare narzisstische Abwehrstrukturen feststellen: Die Begeisterung für einen Krieg, der Rassenwahn, die Völkermorde, das repressive DDR -System oder das heutige Gier-Syndrom mit einem «Leben auf Pump» sind nur denkbar, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung sich aktiv daran beteiligt oder die Entwicklung toleriert – und das lässt sich nur als Symptom narzisstischer Abwehr verstehen. In irrationalen Überzeugungen werden Selbstwertstörungen kompensiert (der «Herrenmensch», die «Überlegenheit des Sozialismus», das Glück durch Konsum) und im destruktiven Handeln die aufgestauten Aggressionen ausagiert. Hat man den mörderischen Hass einmal kennengelernt, der in vielen Menschen schlummert, die narzisstische Verletzungen erlitten haben, wird auch das häufig hoch abnorme Handeln als Abwehrverhalten verstehbar. Die moralische Bewertung aus der Distanz ist relativ einfach, die Schuldfrage hingegen wesentlich schwieriger zu beantworten. Wie weit reicht die Entscheidungsfreiheit eines Mittäters, wenn die notwendige Abwehr intrapsychischer Not in Betracht gezogen werden muss?
Das Sein bestimmt das Bewusstsein – aber das Unbewusste bestimmt das Sein. Für mich heißt das: Vor allem unbewusste seelische Verhältnisse bestimmen das Handeln des Menschen bzw. seine Anfälligkeit für das «Mithandeln». Handelnde Menschen gestalten die gesellschaftlichen Verhältnisse (politisch, ökonomisch, sozial, kulturell). Durch die so gestaltete Gesellschaft werden die Menschen wiederum entsprechend ihrer Abwehrnotwendigkeit geprägt und stabilisiert. Deshalb lässt sich noch das falscheste Verhalten mit überzeugenden Argumenten begründen. Die Wahrheit liegt nicht in den Aussagen, sondern in den versteckten Motiven des Handelns. Und erst in den (auch späten) Folgen des Handelns wird der von narzisstischen Bedürfnissen getragene Irrtum oder die Lüge erkennbar.
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6 Die Folgen narzisstischer Störungen
Die individuelle narzisstische Not
Minderwertigkeitsgefühl und Selbstunsicherheit stellen einen ständigen seelischen Stachel dar, der zum quälenden Antreiber wird, durch besondere Anstrengungen und Leistungen, durch Ehrgeiz und herausragendes Engagement zu beweisen, dass man doch liebens- und anerkennenswert sei. In der Regel bleibt verborgen, dass die berühmten Persönlichkeiten – und ganz besonders die Stars und Sieger, deren Leben sich so hervorragend vermarkten lässt – in der Tiefe häufig einsame, bedürftige und seelisch bedauernswerte Menschen sind. Das lüsterne Interesse von Millionen Voyeuren ist nur das Negativbild der narzisstischen Störung: auf der Bühne das Größenselbst – im Zuschauerraum hingegen das Größenklein, das sich als Fan im Erfolg des idealisierten Stars spiegeln möchte und im Falle von dessen Absturz stellvertretend Schmerzen oder heimliche Schadenfreude erleben kann.
Die auffälligen Trauerreaktionen bei dem Tod etwa von Lady Di, Michael Jackson oder Robert Enke und sogar bei dem Eisbären Knut bringen die Projektionsgefühle narzisstischer Bedürftigkeit zum Vorschein. Das wirkliche Schicksal der verehrten Person ist uninteressant, Hauptsache, sie eignet sich für projizierte Gefühle, handle es sich nun um Stolz, Freude oder auch Empörung, Schmerz und Trauer. Es sind aber jeweils Ersatzgefühle, da die Anteilnahme von den eigenen unerfüllten Wünschen oder auch erlittenen Verletzungen ablenken soll. So werden die Prominenten als Stellvertreter benutzt, und man trauert ersatzweise um einen Menschen, den man persönlich gar nicht kannte und dem man gerade deshalb alle möglichen emotional aufgeladenen Phantasien aufbürden konnte – der im Grunde eine narzisstische «Plombe» war. Mitunter spielt auch heimliche Schadenfreude eine Rolle, denn schließlich hat man ja überlebt, im Gegensatz zum hochverehrten Idol. Es ist also nur ein Selbstobjekt gestorben, für das auch bald Ersatz gefunden ist. So finden narzisstischer Mangelschmerz und narzisstische Kränkungsaggression gemeinsam eine Bühne, das wirkliche Leid bleibt hingegen beschützt.
Der reale Wert, der durch den Fleiß und die Anstrengungen von Narzissten geschaffen wird, ist nur das Abfallprodukt des tief verborgenen und
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