Die narzisstische Gesellschaft
von außen das bringen, was im Inneren fehlt. Es ist der nachträgliche Versuch, sich eine gute Mama einzuverleiben. Die gewünschte Nähe wird dann zur «Phagozytose», zur Inbesitznahme und zum energetischen Vampirismus. Konarzisstisch schwelgen beide in Übereinstimmung und Idealisierung, ohne die Aufblähung auf der einen Seite und die Auszehrung der Individualität auf der anderen Seite wahrzunehmen. Nur der Suchtcharakter einerseits und der Charakterverlust andererseits lassen im Laufe der Zeit Spannungen und Unzufriedenheit aufkommen oder psychosomatische und depressive Symptome entstehen. Bei Trennungen aus einer solchen symbiotisch-narzisstischen Beziehung entstehen auf beiden Seiten schwere Krisen: beim Narzissten aus Kränkung, beim Konarzissten aus Verlust der Abhängigkeit. Zur Heilung müsste der Aufgeblähte Demut und Begrenzung lernen sowie die eigene Bedürftigkeit fühlend erleben, und der Ausgemergelte und Entfremdete müsste seine Eigenständigkeit entwickeln lernen, was natürlich auch die eigene Behinderung und den Mangel schmerzvoll bewusstmachen würde.
Wirkliche Nähe entsteht also nicht durch kollusive Verschmelzung, sondern in einer Beziehung auf Augenhöhe. In einer Beziehung, in der es beiden möglich ist, sich zu öffnen und ehrlich mitzuteilen, ohne dass man etwas hermachen oder verbergen müsste. Wenn keine soziale Maske und keine soziale Phobie mehr gebraucht werden, um sich narzisstischer Anerkennung halber zu verbiegen und anzupassen oder sich zu verweigern und zu entziehen, dann entsteht wirkliche Nähe. Nähe ist ein Ausdruck des wirklichen sozialen Kontaktes, wenn man sich unverstellt zeigen und mitteilen kann und auf der anderen Seite die Bereitschaft und Fähigkeit besteht, einfühlend zu verstehen, ohne zu beraten, zu bewerten oder zu kritisieren. Nähe bedarf weder der Zustimmung noch der Kritik – notwendige Erfahrungserweiterungen, Selbstverständniskorrekturen und Interpretationsveränderungen entstehen aus sich heraus, aus einem naturgegebenen Bedürfnis nach Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit und einer individuellen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.
Nähe entsteht im authentischen Kontakt zweier (oder mehrerer) Menschen, die sich wirklich so zeigen und äußern, wie sie gerade sind, und darin ohne Bewertung bestätigt werden. Erlebte Andersartigkeit und subjektive Besonderheit bzw. Einmaligkeit sind die lustvollen Wahrnehmungen gesunder narzisstischer Sättigung: Ich weiß, wer ich bin, was ich empfinde und will, und werde darin bestätigt.
Aber Achtung: Es gibt – und das nicht einmal selten – eine Pseudo-Authentizität, die durch die besondere Betonung des eigenen «freien» Willens auffällt. Zumeist unter Verwendung kämpferischer Floskeln: «Das ist mein Weg! Ich stehe dazu! Ich habe ein Recht auf meine Meinung! Da lass ich mir nicht reinreden! Ich empfinde halt so!» – so wird die narzisstische Schwäche verteidigt und gerade dadurch Nähe vermieden. Die trotzige Selbstbehauptung schafft Distanz und wirkt wie ein Schutzschild vor wirklicher Begegnung. Nähe erwächst nicht aus Zustimmung und natürlich auch nicht aus Ablehnung, sondern aus dem Erleben individueller Einmaligkeit und Andersartigkeit in sozialen Kontakten, die geeignet sind, die Individualität zu entfalten. Der Mensch ist ganz besonders auf soziale Kontakte angewiesen, in denen er sich entfalten, entwickeln, ausprobieren und erfahren darf und in denen er auf diese Weise auch Nähe zu sich selbst erlebt – im Grunde das Gegenteil von narzisstischer Selbstdistanz. Der Narzisst ist stets in einer sozialen Lüge befangen, im schützenden Selbstirrtum und einer kultiviert-verlogenen Fremdbewertung. Zum Star oder Helden wird gemacht, wer das als narzisstische Ersatzbefriedigung braucht, und er wird durch diejenigen dazu, die ein Objekt der Verehrung benötigen, um von der verlorenen eigenen Ehre abzulenken. Unsere Gesellschaft lebt davon: im Sport, in der Kultur, in der Wirtschaft, Wissenschaft und auch in der Politik.
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9 «Ich halte das Gute nicht aus!»
Die Überschrift dieses Kapitels ist eine im Grunde genommen paradoxe Aussage, denn jeder sehnt sich nach Glück und Wohlbefinden. Und doch liegt hier ein Schlüssel für das Verständnis der narzisstischen Tragik. Gequält von nagenden Zweifeln am Selbstwert, tut der ungeliebte Mensch alles, um Aufwertung zu erreichen. Angesichts der verhängnisvollen Fehleinschätzung, dass man selbst nicht liebenswert sei, statt die
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