Die narzisstische Gesellschaft
ersehnt, doch in Wirklichkeit vermieden und unbewusst gar aktiv verhindert werden. Einerseits werden die realen Belastungen der Gegenwart gebraucht, um die erlittenen innerseelischen Belastungen der Vergangenheit an der Erinnerung und Bewusstwerdung zu hindern; andererseits würde ein glücklicher Augenblick sofort bewusstmachen, wonach man sich wirklich sehnt und was immer gefehlt hat. So wird das «Gute» zum Provokateur des «Bösen». Der Vergleich wird zum Verhängnis: «Ich halte das Gute nicht aus!» ist dann eine bereits reflektierte Erkenntnis. Schöne Momente, erfahrene Bestätigung und Zuwendung, die Beteiligung an beglückenden Ereignissen werden stets sehr bald durch Schattenereignisse überlagert: Symptome, Erkrankungen, Unfälle, Streit und Konflikte trüben plötzlich das gute Gefühl und sorgen für die baldige Rückkehr zu den bekannten Sorgen und Belastungen.
Menschen mit narzisstischer Problematik wissen häufig durch kluge Kritik, suggestive Zweifel oder Themenwechsel, durch Bedenken, Diskussionen und Abwertungen schon im Vorfeld zu verhindern, dass etwas emotional Gutes entsteht. Das Liebevolle, Herzliche, Echte wird gemieden – wie der Teufel das Weihwasser meidet –, um sich vor Erfahrungen zu schützen, die schmerzbesetzt sind. So erhält man sich lieber den «Feind» – mit ihm hat man lernen müssen, umzugehen und fertigzuwerden.
Mancher Lottogewinner verspielt lieber seinen unerwarteten Reichtum, weil die Seele nicht auf Glück, sondern auf Leid und Mangel programmiert ist. Therapeuten, Pastoren, Helfer jedweder Coleur können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, anderen zu mehr Zufriedenheit zu verhelfen. Auf einen Erfolg oder auf Symptombesserung erfolgt gleich ein neues Missgeschick oder eine Symptomverschiebung. Im Parallelogramm der früh geprägten Kräfte gibt es keine wirkliche Verbesserung – jedenfalls nicht ohne Erkenntnis und durchlebten Schmerz über den frühen Liebesmangel.
Und auch dann kann man sich dem Besseren immer nur vorsichtig und in kleinen Schritten nähern; das dabei erinnerte Leidvolle muss sich emotional ausdrücken dürfen, sonst gibt es keine energetische Entlastung und Entwicklung. Das Ergebnis ist meistens «nur» ein veränderter, kompetenterer Umgang mit der eigenen Not; das reaktivierte narzisstische Leid muss dann zum Beispiel nicht mehr als Selbst- oder Fremdabwertung ausagiert, es muss nicht mehr in soziale Beziehungen getragen werden. Die zu erwerbende Kompetenz liegt dann darin, sich aus den Kampffeldern zurückzuziehen und in einem geschützten Raum die reaktivierten Wunden emotional «ausbluten» zu lassen. Um etwas «Gutes» erleben und aushalten zu können, ist ein Freiraum erforderlich, in dem alte «schlechte» Erfahrungen durch Erinnerung und Gefühlsausdruck beiseitegeräumt sind. Und dabei ist es nicht mit einem Mal getan: Einen solchen Freiraum muss man sich stets aufs Neue schaffen, weil die alten Erfahrungen ein Leben lang zu dominieren drohen. Auf diese Weise ist «Therapie» der wirkungsvollste Weg, sich gegen die Macht der frühen Erfahrungen zu stemmen und tatsächlich – vorübergehend – gute Erfahrungen zuzulassen. Auf jeden Fall ist es, ethisch gesehen, ein hoher Wert, aufgrund der erlittenen Verletzungen nicht selbst zum Täter zu werden und die eigene Selbstwertproblematik nicht sozial, im Bekämpfen, Streiten und Abwerten, auszuleben.
Fast jeder kennt die Erfahrung, dass Tränen hochsteigen, wenn er etwas Gutes erlebt, und dass er weinen muss, bevor er sich freuen kann. Da meldet sich der Schmerz des bisherigen Mangels an Gutem. Wer dies nicht akzeptieren und zulassen mag, der wird auch alles Gute zerstören, nur um sich vor dem eigenen Schmerz zu schützen.
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10 Der Schatten des Narzissmus
Die narzisstische Regulationsnotwendigkeit
Das frühe Liebes- und Bestätigungsdefizit bleibt eine schmerzhafte Wunde das gesamte Leben lang. Eine wirkliche Ausheilung gibt es nicht. Jeder mit einem narzisstischen Mangel behaftete Mensch ist gezwungen, nach Ersatz zu suchen, für die nicht abgeführte Bedürfnisenergie andere Ausdrucks- und Abfuhrmöglichkeiten zu finden. Deshalb lässt sich ein gesundheitsschädigendes Verhalten, wie es etwa durch falsche Ernährung oder Rauchen, durch Arbeits- oder Spielsucht entsteht, nicht einfach aufgeben. Wer dies versucht, wird sehr bald die Ergebnislosigkeit seines Bemühens erfahren oder sich in einem ähnlichen Teufelskreis wiederfinden, nur dass das schädigende
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