Die narzisstische Gesellschaft
Lieblosigkeit der Eltern zu erkennen, werden Wege und Mittel gesucht, um zu beweisen, dass man doch liebenswert ist. Die daraus folgenden Anstrengungen und Mühen können zu großartigen Leistungen und Erfolgen führen, nur zu einem nicht: Liebe. Liebe kann man sich nicht verdienen, verdienen lassen sich höchstens Anerkennung und Respekt. Wirkliche Liebe wird geschenkt oder eben nicht. Dass man sich aber am frühen Liebesmangel schuldig fühlt, ist eine tragisch-gnadenvolle Schutzfunktion der Seele, um überhaupt überleben zu können. Sich als nicht geliebt zu erfahren gleicht einem Todesurteil – nicht berechtigt, nicht willkommen, existenziell nicht angenommen und bestätigt zu sein. Der Glaube, man könne dieses Schicksal überwinden, lässt einen überleben.
Die Selbstbeschuldigung und das unendliche Bemühen geben insofern Halt, als sie zur Hoffnung berechtigen, wenn man sich nur richtig anstrenge, dann komme man doch noch ins Paradies der Liebe. Mit dieser irrationalen Grundeinstellung zum eigenen Leben entwickelt sich eine nicht integrierte Persönlichkeit: in der seelischen Tiefe Selbstwertzweifel – ewige Anstrengungen zur Beruhigung und Kompensation –, an der Oberfläche reale Erfolge als scheinbare Bestätigung des Selbstwertes. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass diese Erfolge nicht als solche erscheinen, indem sie auf einen Selbstwert verweisen, der für das bloße Dasein, für die einzigartige Existenz steht; vielmehr handelt es sich um einen sekundär erworbenen Selbstwert, gebunden an Mühen und Anstrengungen und abhängig von Fremdbestätigung. Ein solcher Wert gibt Halt und Orientierung, hält aber nicht, was er verspricht, und orientiert sich lediglich an äußerer Bewertung. Man wird süchtig nach Bestätigung, erlebt aber niemals wirkliche Befriedigung. Alle Auszeichnungen, Ehrungen, Medaillen, Orden oder Pokale verlieren mit der Überreichung ihre Wirkung, da jetzt keine ablenkende Anstrengung mehr erforderlich ist, es sei denn, man strebt sofort den nächsten Erfolg an. Im Grunde genommen geht es, etwa im Leistungssport, nicht wirklich um den Sieg, sondern um das gnadenlose Training, den Stress des Wettkampfes und das Leiden daran, dass man noch besser hätte sein können. Damit wird die Zeit ausgefüllt, das Leben strukturiert, um der Selbstwertproblematik eine Aufgabe zu geben. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an das tragisch-groteske Bild der altersdementen Schauspielerin Maria Schell; sie saß in einem abgedunkelten Raum, der mit unzähligen Monitoren bestückt war, und holte sich dort Halt, indem sie sich ihre alten Filme vorführen ließ und sich gewissermaßen in ihrem Ersatzleben spiegelte.
Narzissmus ist die Quelle jeder Form von Stress. Die seelische Verletzung gestattet keine Ruhe. Im Zustand der Entspannung, befreit von Pflichten und Aufgaben, drohen die schmerzvolle Unerfülltheit, der bittere Bestätigungsmangel wieder Oberhand zu gewinnen. Nur die Anstrengung hält das Wiedererleben des Defizits in Schach. Der selbst erzeugte Stress hat aber eine wichtige, pseudotherapeutische Funktion, nämlich die quälende Erfahrung des Ungeliebtseins zu überdecken. Als wolle man die «Pest» mit anderen, psychosomatischen Erkrankungen, mit Angst und Depression, aber auch mit womöglich lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Herzinfarkt und Krebs bekämpfen. Auf diese Weise bekommen Krankheiten, soziale Niederlagen und die Vielzahl von Konflikten, die man herstellen und unterhalten kann, einen tieferen Sinn: als Ersatzleid, als Ablenkung von der bedrohlichen Quelle und zur energetisch-emotionalen Abfuhr aufgestauter Affekte. Am ungerechten Chef, am bösen Nachbarn, am lieblosen Partner, an den Verhältnissen, am politischen Gegner, an Terroristen zu leiden, ist wesentlich einfacher, als die eigene schon längst vorhandene seelische Belastung und Verletzung wahrzunehmen und emotional zu verarbeiten. Kampf ist leichter als Therapie. Mit jedem Konflikt, in dem man sich befindet, lenkt man sich vom wirklichen Elend und Bedürfnis ab. Je größer die narzisstische Verletzung, desto mehr Gegner oder Probleme braucht man, desto mehr ist man an schwierigen, konfliktären Verhältnissen (von der Partnerschaft über die Arbeit bis zur Gesellschaft) interessiert, die man dann auch – zumeist unbewusst und vor allem unreflektiert – mit schürt und ausgestaltet.
So wird die Paradoxie verständlich, dass zwar Entspannung und Befriedigung, Wohlbefinden, Lust und Glück
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