Die narzisstische Gesellschaft
leicht ein Anlass finden lässt, sich aufzuregen, den anderen anzugreifen und möglichst wirkungsvoll zu beleidigen. Das Leiden am Partner wird gebraucht, um dem eigentlichen frühen Leid des Liebesmangels eine Adresse und einen Grund zur Abreaktion zu geben. Es ist also kein echtes Leid im demonstrierten Ausmaß, höchstens insofern sich der Beschuldigte auch ganz real schuldig macht – das ist natürlich immer das Beste, weil man dann vor sich selbst und jedem Dritten den «Beweis» führen kann, dass man zu Recht zu leiden hat. Man erkennt diesen Missbrauch daran, dass die Erregung immer viel größer ist als der Anlass und dass die Vorwürfe und Anklagen so gut wie nie versiegen. Man sollte aber nicht denken, dass der Beschuldigte – das sogenannte «Opfer» – nun besonders bedauernswert sei; er ist lediglich die Passivform des Narzissmus – das Größenklein, das die Abwertung und Beschuldigung sucht, braucht und provoziert, um sich den tiefen Selbstunwert immer wieder stellvertretend bestätigen zu lassen. Damit bleiben die ursprünglichen Täter geschont und geschützt und das anerzogene Weltbild: «Ich bin nicht liebenswert! Ich bin schlecht! Ich bin ungeschickt und fehlerhaft!», bleibt unangetastet. So erklären sich die leidvollen paradoxen Partnerschaften, in denen Menschen sich quälen und sich quälen lassen, aber unbedingt zusammenbleiben müssen, um ihre narzisstischen Verletzungen gemeinsam zu regulieren. Welche Tragik, welch verlorenes Leben und welche unverzeihliche Weitergabe einer verbitterten Lebensweise an die Kinder. Man kann das oft benutzte Gegensatzpaar: «Böser Mann – arme Frau» getrost so variieren: «Frau, die sich provozierend opfert – Mann, der sich zum Täter verführen lässt.»
Will man ungefähr abschätzen, wie groß die narzisstische Last eines Gegenübers ist, muss man nur darauf achten, wie sehr man von ihm zur Bestätigung und Übereinstimmung oder zur Kritik und Abwertung gebraucht wird oder wie schnell und leicht man dazu provoziert wird, sich zu ärgern und aufzuregen. Auch das Ausmaß eigener narzisstischer Störung lässt sich abschätzen an der Überzeugung, anders und besser zu sein als das Gegenüber, oder daran, andere immer als überlegen bzw. unterlegen wahrzunehmen, leicht mit Spott und Hohn über andere zu reden und einen hohen Anspruch zu haben, gesehen, beachtet, respektiert und gut bedient zu werden, oder auch immer jemanden zu brauchen, den man bewundern und verehren kann und dem man gerne folgt.
Ohne eine besondere narzisstische Problematik bleibt man im Kontakt offen, kann sich angstfrei mitteilen, kann gut übernehmen, zuhören und sich einfühlen, reagiert der Situation angepasst, sich davon abgrenzend oder mit dem Willen, sich durchzusetzen. Das eigene Verhalten bleibt dynamisch, indem innere und äußere Einflüsse berücksichtigt werden und zu einem Verhaltensergebnis führen, das so vorher nicht abzusehen war – im Gegensatz zum Zwang, sich behaupten oder sich unterwerfen zu müssen. Der Gesunde kann Neues erfahren und ausprobieren, das Leben bleibt interessant und spannend mit Erfolg und Misserfolg, Sieg und Niederlage oder einfach nur so, ohne wertendes Ergebnis. Der Narzisst muss seinem Abwehrbedürfnis entsprechend reagieren, sein Verhalten ist festgelegt, rigide: Er muss der Größte sein, etwas Besonderes hermachen und bedeuten oder seinen Unwert ständig beweisen – so wird sein Leben eintönig, langweilig und bedarf der Reizsteigerung von außen nach innen und der Spannungsabfuhr von innen nach außen, für die dann Gründe und Anlässe gefunden werden müssen. So ist im großen Stil – unter Führung eines auffällig narzisstisch gestörten amerikanischen Präsidenten – auch der Irakkrieg angezettelt worden. Es wurden vermeintlich Schuldige gesucht und gefunden, an denen dann die aus narzisstischer Kränkung resultierende Aggression abreagiert werden konnte.
Exemplarischer Fallbericht einer konfliktären narzisstischen Partnerschaft
Er ( 45 Jahre), Rechtsanwalt, sie ( 39 Jahre), Sacharbeiterin bei einer Krankenkasse. Beide sind seit sieben Jahren verheiratet, jeder das zweite Mal. Er hat zwei Kinder aus erster Ehe ( 15 und 13 Jahre), sie war in erster Ehe kinderlos, jetzt haben beide ein gemeinsames Kind ( 4 Jahre).
Er kommt zur Therapie mit einer depressiven Symptomatik und zunehmendem Alkoholmissbrauch. Er ist anfangs völlig verzweifelt, ratlos, «am Ende seiner Kunst» und versteht die Welt nicht
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