Die Naschmarkt-Morde
…«
»Was für Gerüchte?«
»Na, zum Beispiel, dass sie eine Amour fou hat … die Minerl.«
»Also ich für meinen Teil kann dir nur Folgendes sagen: Meine Cousine, die Gräfin von Hainisch-Hinterberg, wohnt auf Einladung meiner Frau Mama seit circa einem Jahr bei uns im Haus. Dieser Umstand konveniert mir zwar nicht, aber ich bin leider nicht imstande, dies zu ändern. Weiters entwickelt dieses Weibsstück, das leider meine Cousine ist, ein äußerst mysteriöses Eigenleben, für das ich mich aber nicht interessiere und das mir, salopp ausgedrückt powidl 36 ist.«
»Du brauchst dich ja nicht gleich zu echauffieren, Loysi. Du kennst doch die Frauenzimmer. Die machen doch immer nur das, was sie wollen.«
»Schon, schon … Nur dass sie heute Nacht überhaupt nicht nach Hause gekommen ist, ist schon starker Tobak. Weißt du, wie sich meine arme Frau Mama heute früh aufgeregt hat? Ganz weiß war sie im Gesicht und nach Luft hat sie geschnappt. Ich hab sie, bevor ich reiten gegangen bin, nur mit allergrößter Mühe und mit mehreren Löffeln Baldrian beruhigen können.«
Mittlerweile hatte der Ober dem Baron das zweite Seiterl sowie das Züngerl mit Kren gebracht. Schweigend verschlang er sein Déjeuner. Der Graf fingerte indessen eine goldene Tabatiere aus der Westentasche, entnahm ihr eine Zigarette und fragte den Baron, ob er rauchen dürfe, was dieser gestattete. Borowicz blies wohlgeformte Ringe in die vormittägliche Luft und bemerkte schließlich en passant: »Sag, stimmt das, dass die Minerl eine Mesalliance mit einem Faktotum vom Naschmarkt hat?«
Nach einem kurzen Schweigen antwortete der Baron: »Lieber Franci, wenn du damit andeuten willst, dass so etwas Undenkbares in meiner Familie denkbar wäre, dann täte mich das sehr kränken …«
Borowicz sah, dass ihn sein Gegenüber wie ein waidwund geschossenes Tier anblickte, und ihm wurde bewusst, voll ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Es folgte eine unangenehme Stille. Franciscus Graf Borowicz rauchte seine Zigarette fertig und ignorierte dabei geflissentlich den beleidigten Gesichtsausdruck Schönthal-Schrattenbachs. Danach zahlte er, verabschiedete sich mit knappen Worten und fuhr mit einem Fiaker davon.
II/2.
Über dem Wiental lag ein Summen. Ein auf- und abschwellendes Geräusch, das sich aus vielen aufgeregten Stimmen zusammensetzte. Hier am Naschmarkt, der sich von dem begrünten Areal vor dem Freihaus in den unteren Teil der Wiedner Hauptstraße einerseits sowie auf den überbauten Wienfluss andererseits erstreckte, erklang eine Polyfonie der Stimmen und Sprachen. Wie auf jedem Markt, so wurde auch hier gehandelt, gefeilscht, gezetert, geflucht, gustiert, Schmäh geführt 37 , politisiert, getratscht, geschrien und gelacht. Dies geschah nicht nur im Wienerischen Zungenschlag, sondern in den vielfältigen Dialekten Cis- und Transleithaniens 38 , in Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Kroatisch sowie im halben Dutzend der anderen Sprachen, die im Staatsgebiet der Doppelmonarchie gesprochen wurden. Abgerundet und gleichsam gewürzt wurde diese babylonische Sprachenflut von einer Prise Jiddisch. Im Gegensatz zu anderen Tagen hatte das Summen heute Vormittag eine ganz eigene Frequenz und Tonlage. Denn zu all den üblichen Tönen mischte sich – einem überall einsickernden Brei gleich – eine Unzahl von Gerüchten, die den Mädchenmord der vergangenen Nacht betrafen. Leo Goldblatt, der sich dem Summen von seiner Wohnung am Getreidemarkt aus näherte, erfasste eine merkwürdig fiebrige Stimmung. Sei es nun, dass die Marktweiber unter ihren Kopftüchern aufgeregter schnatterten als sonst, oder dass sich heute einfach mehr Menschen durch das Marktgetümmel drängten. Goldblatt tauchte in die wogende Menge ein, schnappte gierig Sätze auf und nahm sie geistig ad notam, um sie später in einen Artikel zu gießen. Er grüßte Bekannte, mischte sich selbst in Gespräche ein und zückte schließlich Block und Bleistift (das geistige Notieren klappte nicht so ganz …). Mit fliegenden Fingern machte er sich Notizen bezüglich all der Vermutungen, Tratschereien, Theorien und Hypothesen, die kursierten. Als er sich, eilig kritzelnd, durch die Menge drängte, stieß er – wie ein Schiff auf einen Eisberg – mit einer enormen Masse Mensch zusammen. Der Aufprall war so heftig, dass es die spindeldürre Gestalt Goldblatts fast umgerissen hätte. Eine kräftige Hand bewahrte aber den Redakteur vor einem Sturz.
»Um Gottes willen, Goldblatt! Können S’
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