Die Naschmarkt-Morde
nicht aufpassen?«, brummte eine dem Redakteur wohlbekannte Stimme. Er fand wieder Halt, rückte seine verrutschte Brille zurecht und sah vor sich die imposante Statur Joseph Maria Nechybas.
»Nechyba! Sie haben mich fast über den Haufen gerannt … Darauf brauchen Sie sich aber nichts einbilden, schließlich passe ich fast zweimal in Ihr Gewand. So einen wie mich niederzuwalzen, ist keine Kunst.«
»Na, na … Ich verbitte mir plumpe Vertraulichkeiten. Ich kann ja auch nix dafür, dass ich im Gegensatz zu Ihnen ein g’standenes 39 Mannsbild bin. Mit Ihrer Figur können Sie halt nur hinter dem Schreibtisch Papierln bändigen, während ich hier im rauen Leben für Recht und Ordnung sorge. Da! Schauen Sie sich um, wie es hier zugeht …«
Nechyba deutete auf einen Durchgang zwischen den Marktständen, in dem es zu Handgreiflichkeiten zwischen einem kräftigen Kerl und einem Dienstmädchen gekommen war. Der Grobian hatte das Mädel an ihren langen blonden Haaren gepackt und schlug ihren Kopf gegen eine Mauer. Das Mädchen trat wie wild um sich und stieß dabei schrille Schmerzens- und Wutschreie aus. Prompt bildete sich eine Menschentraube von Neugierigen und Gaffern, die entweder das Mädchen oder den Kerl, der ein blutbespritztes Fleischhauergewand trug, anfeuerte.
»Wollen Sie nicht eingreifen, Nechyba? Der schlägt dem Mädel ja noch den Schädel ein.«
»Wenn er das tut, Goldblatt, dann hab ich ihn beim Schlafittchen«, brummte Nechyba. »Aber bis dahin lass ich ihn in Frieden.«
»Ah, Sie sind also auch so einer, der meint, dass Frauen den Männern untertan sein sollten! Und dass Mannsbilder Frauen nach Belieben misshandeln dürfen …«
»Reden S’ keinen Blödsinn! Aber zufälligerweise ist der Kerl da mein Lieblingsfleischhauer. Der legt mir immer die besten Stückerln auf die Seite. Deswegen mach ich eine Ausnahme und drücke beide Augen zu. Sonst würde ich ihn eh verhaften … Schöberl heißt er. Ein grobes Mistvieh. Der bedrängt und misshandelt in einem fort irgendwelche Mädeln.«
»Nechyba! Sie haben ein monomanisches Denken. Bei Ihnen dreht sich wirklich alles nur ums Essen.«
»Weil Sie gerade davon reden: Ich hab einen Bärenhunger. Kommen S’, Goldblatt! Gehen wir in ein Beisl. Ich hab jetzt einen kolossalen Appetit auf ein ordentliches Bruckfleisch 40 . Schließlich hab ich heute Nacht mit meiner Gruppe Bereitschaft in der Polizeidirektion gehabt … Um halb vier in der Früh wurde ich aus dem besten Nachtdienstschlaf gerissen. Wegen des vermaledeiten Mordes da … Und nachher hab ich mich den ganzen Morgen um die Leiche und den möglichen Tathergang kümmern müssen. Kommen S’, Goldblatt, gehen wir was essen! Da erzähl ich Ihnen alles, was es bisher über den Mord zum Erzählen gibt.«
Die Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu ergattern, ließ sich Goldblatt natürlich nicht entgehen. In diesem Fall war seine berufliche Neugierde stärker als sein Mitleid mit dem misshandelten Weibsbild. Und während die beiden Männer zu einem nahen Beisl spazierten, wurde die hässliche Szene beim Gemüsestand abrupt beendet. Der k. k. Polizeiagent Pospischil, der Mordzeugen zu eruieren trachtete, mischte sich in die Rauferei ein. Mit einem Schlagring bewaffnet, streckte er den Fleischergesellen Schöberl nieder. Durch einen wuchtigen Schlag auf den Hinterkopf. Danach packte er ihn beim Kragen, zog ihn vom Boden auf und führte ihn unter dem beifälligen Gemurmel der Zuschauer ab. Währenddessen wurde Joseph Maria Nechyba ein dampfendes Bruckfleisch mit einem kanonenkugelgroßen Semmelknödel serviert. Ohne aufzublicken und ohne konversationsbedingte Unterbrechungen verzehrte er es. Schließlich lehnte er sich zufrieden zurück, putzte den Schnurrbart in bekannter Art und Weise und zündete sich eine Zigarre an. Nun berichtete er dem Redakteur, dass die Tote noch nicht identifiziert sei, dass niemand von den Standlern und Fratschlerinnen sie kenne, er im Moment keinerlei Anhaltspunkte habe und die Polizei die Wiener Bevölkerung bitte, allfällige Beobachtungen respektive sachdienliche Hinweise umgehend beim nächsten Kommissariat zu melden.
III/2.
»Staaarrrrni! Staaarrrrni? Staaarrrrni!«
Träge hob Stanislaus Gotthelf das rechte Augenlid. Sonnenlicht sickerte in den Raum. Wieder und wieder erklang: »Staaarrrrni!« Die gekreischte Verunstaltung seines Namens schmerzte ihn heute noch mehr als sonst. Er hatte einen dröhnenden Schädel, der sich groß und hohl wie ein Briefkasten
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