Die Naschmarkt-Morde
anfühlte. Und in diesem Hohlraum dröhnte in einem fort: »Staaarrrrni!«
Mit Mühe zog er den Kopfpolster unter seinem Briefkastenhaupt hervor und schleuderte ihn auf den Schreihals. Dieser quittierte die Attacke mit heftigem Flügelgeflatter, irrem Gezeter sowie einem »Geh scheißen, Staaarrrrni!«.
Damit kehrte endlich Ruhe ein, und Gotthelf versank für eine weitere Stunde in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von seiner Mutter. Eine Fratschlerin, die berühmt-berüchtigt für ihr ordinäres Mundwerk war. Berühmt vor allem deshalb, weil sie als kräftige und energische Frau durchaus imstande war, ihren Mann zu stehen. Die Naschmarkt-Sopherl war wahrscheinlich nur einmal in ihrem Leben schwach geworden, und als Folge dieses Ausrutschers hatte sie ein Kind bekommen. Dieses Kind – sie nannte es den Pamperletsch – wuchs mehr schlecht als recht auf. Von Kleinkindesalter an hieß es früh aufstehen und beim Einkaufen der Ware sowie bei der Arbeit am Markt helfen. Denn der Pamperletsch war viele Jahre lang das beste Verkaufsargument seiner Mutter.
»Ist er nicht lieb, der Kleine? Und hungrig ist er … Ich sag Ihnen, der frisst mir noch die Haare vom Schädel. Gnädige Frau, kaufen Sie mir doch ein Suppengrün und den herrlichen Schnittlauch ab! Das kostet nicht viel und hilft mir, den Pamperletsch zu füttern …«
Diese Lüge störte den kleinen Stani nicht weiter. Schlimm war aber, dass er ständig Lumpen anziehen musste, die bei den miesesten Altkleiderhändlern der Stadt erstanden worden waren. Diese Schäbigkeit diente dazu, Mitleid bei den Köchinnen und gnädigen Frauen, die am Markt einkaufen gingen, zu erregen. Das Mitleidheischen führte unter anderem dazu, dass manche der Damen ihm einen Heller zusteckten, damit er sich eine Zuckerstange kaufen konnte. Diese Zuwendung liebte der Stani. Denn nichts beflügelte seine Fantasie mehr als die Düfte der Damen, die er gierig einatmete, wenn sie sich flüchtig zu ihm herabbeugten. Solche wunderbar duftenden Wahrnehmungen waren für ihn ein Eintauchen in eine andere, schönere Welt. Eine Welt der Weiblichkeit, der Wollust und des Wohlstands.
Seine Mutter nahm ihm übrigens jeden Heller sofort ab, sobald die Wohltäterin außer Sichtweite war. Dies hatte er sich mit zunehmendem Alter immer unwilliger gefallen lassen. Als knapp Zehnjähriger machte er dann um zwei Heller eine eiserne Faust, und als seine Mutter nach einer kurzen Rauferei die Faust geöffnet hatte, biss er sie voll Wut in die Hand. Die Naschmarkt-Sopherl machte einen Schmerzensschrei, ließ darauf alle ihre am Körper hängenden Körbe mit Gemüse fallen und packte ihn mit der unverletzten Hand am Schlafittchen. Dann zog sie dem um sich tretenden und wie ein Ferkel quietschenden Pamperletsch vor allen Leuten die Hose herunter und versohlte seinen Hintern, bis dieser so glühend rot war wie die Bisswunde an ihrer Hand.
Ab diesem Zeitpunkt durfte er die milden Gaben der schönen Frauen zwar behalten, zu seinem Bedauern versiegten sie jedoch in zunehmendem Maße, da er allmählich kein kleines Kind mehr war, sondern sich zu einem langen Lulatsch 41 auswuchs. Nun musste er bei seiner Mutter noch härter arbeiten, ihr schwere Sachen schleppen helfen sowie zahlreiche Besorgungsgänge machen. Schließlich wurden für ihn Tragkörbe angeschafft, mit denen auch er Gemüse verkaufte. Für die Schule blieb während all dieser Jahre keine Zeit. Gotthelf schaffte es trotzdem, das Lesen einigermaßen zu erlernen, seine Schreibkünste beschränkten sich allerdings auf das Schreiben des eigenen Namens. Als einmal ein Schulinspector höchstpersönlich zu seiner Mutter kam, legte sie dermaßen mit üblen Beschimpfungen los, dass es dem Mann die Sprache verschlug. Unverrichteter Dinge zog er aus der feuchten Wohnung im zweiten Hof links hinter der Handschuhmanufaktur wieder ab. Und der Stani musste weiterhin nicht die Schulbank drücken.
Ein Brennen im Magen weckte Gotthelf. Sein Mund war trocken, die Zunge pelzig. Wasser, war sein einziger Gedanke. Trotzdem blieb er regungslos liegen, sein Körper war schwer wie Blei. Er brachte nicht genug Willenskraft auf, sich einen Ruck zu geben und aufzustehen. Das Gegenteil war der Fall: Je länger er in diesem halbwachen, von Durst gepeinigten Zustand verharrte, desto unmöglicher erschien es ihm, aufzustehen und den ersehnten Schluck Wasser zu trinken. Nach einiger Zeit mobilisierte er schließlich all seine Willenskraft, spannte die Muskeln an und setzte sich
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