Die Naschmarkt-Morde
ruckartig auf. Dies hatte zur Folge, dass sein in Mitleidenschaft gezogener Kreislauf aussetzte und ihm schwarz vor Augen wurde. Glücklicherweise konnte er sich am Betthaupt festhalten. Zutiefst bereute er, dass er gestern Abend, nach dem neuerlichen Nichterscheinen seiner Geliebten, mit der Oprschalek geschnaxelt 42 und sich danach dem Suff hingegeben hatte.
Als er eine Stunde später bleich und übel riechend in die Specerei und Consumwaren Handlung der Lotte Landerl taumelte, rief die Greislerin voll Entsetzen: »Jessasmarandjosef! Wie siehst denn du aus, Stani?«
Gotthelf suchte Halt an dem Bedienungspult, überbrückte ein kurzes Kreislauftief und tastete sich dann an dem Pult entlang zum Durchgang in das private Hinterzimmer des Ladens. Dort ließ er sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf das Kanapee des Hausherrn fallen, wohl wissend, dass dieser wieder beim Branntweiner weilte. Toni, der Papagei, hatte sich die ganze Zeit über tapfer an der Schulter seines Herren festgekrallt. Als dieser sich fallen ließ, schrie er kreischend auf und flatterte auf die Lehne des Kanapees. Die Greislerin trat besorgt an Gotthelfs Seite, legte ihm die Hand auf die Stirne und seufzte: »Mein Gott, Stani … Was ist dir denn über die Leber gelaufen, dass du dich so angesoffen hast? Du siehst ja heute gerade so aus, wie mein Alter alle Tage ausschaut.«
Der Stani genoss die liebevolle Zuwendung und antwortete vorerst nicht. Schließlich raunzte er mit gebrochener Stimme: »Weißt du, Lotte, das Leben ist ein Hund. Und weil es so hundsmiserabel ist, das Leben, muss man manchmal den Aggregatzustand wechseln. Von fest auf flüssig …«
»Zum Kuckuck, Stani! Mir scheint, dass du dich gestern um deinen Verstand gesoffen hast. Was hat so ein Mensch wie du sich in einem Agrarzustand zu befinden? Und den dann auch noch zu wechseln?«
»Aggregatzustand, Lotte! Das ist, ob man fest, flüssig oder gasförmig ist … Das hab ich im Konversationslexikon, das was im Café Sperl aufliegt, gelesen. Und gestern hab ich mich mittels Zufuhr ungeheurer Mengen Alkohols verflüssigen wollen … vor lauter Kummer. Verstehst?«
»Und am nächsten Morgen geht es dir dann noch schlechter. Du bist mir ein schöner Depp …«
»Tu nicht schimpfen, Lotte«, stöhnte er, nahm ihre Hand und küsste sie.
»Weißt du, da du mich so selten erhörst, weil du ja im Grunde deiner Seele trotz allem deinen Alten lieb hast, muss ich mich halt auch anderweitig orientieren …«
Die Greislerin entzog ihm die Hand mit einem Ruck.
»Und weil die betreffende Dame zum Rendezvous einfach nicht erschienen ist, hab ich mich ansaufen müssen.«
»Ihr Männer seid alle Gauner!«, stellte die Landerl fest. Sie ging zu dem kleinen Gasrechaud im Zimmer und kochte dem Stani einen Kaffee. Dabei räsonierte sie: »Wir Weiber sind immer die Dummen. Wir werden belogen, betrogen, geprügelt, verraten, versetzt und am Ende vielleicht auch noch umgebracht …«
»Was redest du denn da zusammen? Ich kenne keinen Mann, der eine Frau umbringen täte. Und dein Alter schon gar nicht. Der ist nur oft besoffen, aber sonst ist er ein ganz lieber Mensch.«
»Von dem rede ich nicht. Ich rede von dem Wahnsinnigen, der gestern Nacht ein Mädel am Naschmarkt erwürgt hat.«
»Was?«
»Na, ein Mädel ist stranguliert worden …«
»Um Gottes willen! Hoffentlich war das nicht die Minerl!«
Nach dem ersten Schreck begann Gotthelf laut zu überlegen: »Andererseits ist die Minerl ja kein Mädel. Die ist eine gnädige Frau, eine Hochwohlgeborene. Also kann sie nicht das bedauernswerte Opfer sein.«
»Ah, da schau her! Der Herr Gotthelf hat sich eine Dame aus den besseren Kreisen angelacht. Eine Hochwohlgeborene, eine Adelige. Anscheinend ist eine einfache Frau wie ich ihm nicht mehr gut genug. Na wenn das so ist, dann braucht der Herr Gotthelf ja auch nicht mehr den Kaffee von der Greislerin trinken. Dann kann er ja seinen Kater woanders auskurieren.«
Mit diesen Worten drehte sie den Rechaud ab, zerrte Gotthelf vom Kanapee und setzte ihn an die frische Luft. Diese schoss kräftig in seinen Körper ein, Sauerstoff belebte die Gehirnzellen. Nüchternheit stellte sich ein, und mit ihr die Erkenntnis, dass er gerade einen Riesenblödsinn begangen hatte. Noch einmal wurde die Tür der Greislerei aufgerissen. Die Landerl hatte Toni auf der Hand, der vor Aufregung kreischte und wild flatterte. Mit einem energischen Ruck warf sie den Papagei in die Luft, machte auf dem Absatz kehrt und
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