Die Naschmarkt-Morde
dreiviertel sechs ist. Zeit, um sich für das Abendessen vorzubereiten … Und du, Aloysius, stehst gerade erst auf! Mein Gott, Bub! Ich hab doch im Moment genug Sorgen. Der Tod der Minerl hat mich heute wiederum kein Auge zutun lassen. Und du treibst dich die ganze Nacht herum.«
»Pardon, aber das ist nicht ganz korrekt. Ich hab mich letzte Nacht in bester Gesellschaft befunden. Oder wollen Sie eine Einladung beim Fürsten Montenuovo als nächtliches Herumtreiben bezeichnen?«
»Hast du wieder Karten gespielt? Du hast doch eh schon so hohe Schulden. Du weißt doch eh nicht mehr, wie du das alles bezahlen kannst …«
»Mach Sie sich keine Sorgen …«, erwiderte der Baron und schob sich ein Stück Gebäck in den Mund, »… wir erben jetzt eh alles von der Minerl. Ihr Herr Bruder hat ihr doch ein komfortables Vermögen hinterlassen. Damit sind wir aus dem Schneider …«
»Pfui Teufel, Aloysius! Wenn es ums Geld geht, lässt du jegliches Taktgefühl vermissen. Deine arme Cousine ist noch nicht einmal unter der Erde, und du spekulierst schon auf ihre Erbschaft. Dégueulasse!«
Damit stand die Baronin auf und verließ den Salon. Ihr Sohn blieb beschämt zurück, was ihn aber nicht hinderte, die restlichen Kekse aufzuessen und in Ruhe eine Schale Tee zu trinken. Das Thein milderte sein Kopfweh, und er begann, sich in seiner Haut wieder wohlzufühlen. Um aber alle Lebensgeister wiederzuerwecken, befahl er dem Dienstmädchen, in die Badewanne kaltes Wasser einzulassen. Eine Radikalkur, die er schon öfters nach durchspielten und durchzechten Nächten angewandt hatte.
Merklich erfrischt stand er nach dem Bade lange vor seinem gut sortierten Kleiderschrank und überlegte, was er heute Abend tragen sollte. Er hatte Lust auf etwas Buntes, Schrilles. Doch die Etikette verlangte von ihm anderes. Es schickte sich einfach nicht, nach einem Todesfall in der Familie fröhliche Farben zu tragen. Deshalb entschied er sich für einen schwarzen Anzug, ein grafitfarbenes Gilet 59 sowie eine schwarzgrau gestreifte Krawatte. Solchermaßen bekleidet, stand er einige Zeit vor dem Spiegel und betrachtete sich mit ausgesprochenem Wohlgefallen.
Als er gegen 8 Uhr abends das Café Sperl betrat, herrschte reger Betrieb. Er ergatterte ein kleines Ecktischchen, das sich unmittelbar neben einer ihm wohlbekannten Gruppe von Tarockspielern befand. Es waren dies der Inspector Nechyba, der Redakteur Goldblatt, der Cafetier Kratochwilla, der ihn über seine Mitspieler hinweg mit einem »Kompliment, Herr Baron« begrüßte, und zu guter Letzt der Scharfrichter Lang. Ein wahrer Könner seines Faches, der erst im April des heurigen Jahres den Raubmörder Anton Senekl sachgerecht justifiziert hatte. Die anderen drei Herren grüßten ebenfalls, der Baron dankte höflich. Danach widmete er sich den Abendausgaben der Zeitungen, die ausführlich über den Mord sowie über den mutmaßlichen Täter, den Fleischergesellen Anastasius Schöberl, berichteten. Während des Lesens beobachtete er, dass es zwischen den Tarockspielern am Nebentisch beachtliche Spannungen gab. Besonders der Inspector sparte gegenüber dem Redakteur Goldblatt nicht an aggressiven Redensarten. Sie gingen weit über das beim Tarockspiel übliche Maß an ironischen Bemerkungen und kleinen Bosheiten hinaus. Schließlich wurde es dem auf seine Gemütlichkeit bedachten Joseph Lang zu bunt. Er schmiss die Karten auf den Tisch und grollte: »Jetzt reicht es aber! Wenn ihr beide – Nechyba und Goldblatt – euch unbedingt streiten wollt, dann gehts gefälligst hinaus auf die Gasse. Dort könnt Ihr euch von mir aus die Schädel einschlagen. Aber hier beim Tarockieren bitte ich mir ein anständiges Benehmen aus.«
Die beiden Angesprochenen zogen wie gemaßregelte Schulbuben die Köpfe ein. Lang, der keinen der beiden ernsthaft beleidigen wollte, mäßigte seinen Ton: »Meine Herren, wir spielen mittlerweile seit Jahren mindestens einmal pro Woche Tarock miteinander. In dieser Zeit sind mir die hier Anwesenden als Mitspieler, und fast möchte ich sagen als Freunde ans Herz gewachsen. Deshalb bitte ich euch – Nechyba und Goldblatt – legts die Karten offen auf den Tisch und sagts, was zwischen euch beiden los ist. Ich bin überzeugt, dass man über jedes Ärgernis vernünftig diskutieren kann.«
Nach einer kurzen Pause räusperte sich Nechyba und antwortete dem Scharfrichter: »Haben Sie heute Morgen dem Goldblatt seinen Artikel über den Naschmarktmord gelesen? Dieser Artikel ist
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