Die Naschmarkt-Morde
Nach einigen einleitenden Floskeln kam Nechyba zum Anlass seines Besuches. Aus der Brusttasche zog er einen der bei Gotthelf gefundenen Briefe und reichte ihn der Baronin. Diese griff zur Lorgnette, warf einen Blick darauf und erbleichte.
»Um Gottes willen! Wo haben Sie denn diesen Brief her, Herr Inspector?«
»Sind S’ mir bitte nicht böse, aber das kann ich Ihnen im Augenblick nicht verraten. Faktum ist, dass wir diesen und weitere Briefe in Händen haben. Was ich nun wissen will, ob diese Briefe von Ihrem Fräulein Nichte stammen …«
»Na, ganz unzweifelhaft! Das ist doch die Handschrift von dem Kind. Was und wem schreibt sie denn da?«
»Gnädige Frau, ich glaub, es wäre gescheiter, wenn Sie das nicht lesen täten …«
Mit diesen Worten nahm Nechyba der Baronin den Brief aus der Hand.
»Wissen Sie, es stehen da Sachen drinnen, die nicht unbedingt für die Augen eines Dritten bestimmt sind. Und die man am besten nicht breittritt.«
»Um Gottes willen! Sie werden unsere Familie doch nicht kompromittieren? Wissen Sie, die Minerl, meine Nichte, war ja fast noch ein Kind. Sie hat mir immer viel Freude gemacht. Nur in der letzten Zeit nicht mehr … Da ist sie plötzlich so verschlossen gewesen. Hat in ihrer eigenen Welt gelebt und hat sich von mir nix sagen lassen. Bis dann das Unglück geschehen ist. Es hat ja gar nicht anders kommen können … das arme Kind …«
Die Baronin bekam einen Weinkrampf, den Joseph Maria Nechyba geduldig abklingen ließ. Danach reichte er ihr ein sorgsam gebügeltes Taschentuch, das sie dankbar annahm, um die Tränen wegzuwischen. Dann zeigte sie ihm einen Brief, den sie von dem durch Skandale berühmt gewordenen Maler Gustav Klimt erhalten hatte. Klimt forderte darin die Baronin in sehr höflichem, aber doch bestimmtem Ton auf, die vereinbarte Anzahlung für das begonnene Porträt ihrer Nichte zu begleichen.
»Keine Sorge, gnädige Frau. So, wie es aussieht, hat Gustav Klimt keinerlei schriftliche Vereinbarung mit Ihrem Fräulein Nichte getroffen. Deshalb hat er vor Gericht wenig Chancen. Und was die anderen Briefe betrifft, so können Sie ebenfalls unbesorgt sein. Sie befinden sich in polizeilicher Verwahrung und sind damit vor Veröffentlichungen geschützt. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass – sobald die Ermittlungen in diesem Fall abgeschlossen sind – Sie die Briefe von mir persönlich retourniert bekommen.«
»Tausend Dank für Ihr Verständnis … Aber sagen Sie mir doch bitte noch eins: Wo haben Sie die Briefe gefunden? Am Ende gar bei dem Faktotum vom Naschmarkt? Wissen Sie, mein Sohn, der Aloysius, hat sich in letzter Zeit so aufgeregt, weil sie angeblich eine Amour fou mit irgendeinem Straßenhändler gehabt haben soll.«
»Unglücklicherweise deutet alles darauf hin, dass Ihr Sohn, der Herr Baron, recht hat«, antwortete Nechyba. »Aber was geschehen ist, ist geschehen, und Ihr Kummer macht Ihre Nichte auch nicht wieder lebendig.«
Mit einem unbehaglichen Gefühl erinnerte sich Nechyba an diesen Nachmittag zurück. Um seine Stimmung zu heben und die Seele ein bisserl zu erwärmen, bestellte er beim Piccolo einen Goldblatt.
Da der Piccolo neu im Café Sperl war und ihn deshalb mit offenem Maul anstarrte, schnauzte ihn Nechyba an: »Fetzenschädl 67 , blöder! Bist jetzt schon zwei Wochen im Sperl und weißt noch immer nicht, was dem Redakteur Goldblatt sein Lieblingskaffee ist! Pass auf, ich erkläre es dir jetzt ein für alle Mal: Das ist ein Türkischer passiert, der mit einem ordentlichen Schuss Trebernen aufgebessert wird. Und weilst mich gar so blöd anschaust, bringst mir jetzt just einen doppelten. Doppelter Kaffee, doppelter Treberner!«
Natürlich brachte der verwirrte Piccolo etwas völlig Falsches, da der Lausbub nicht wusste, was ein Treberner ist. Nechyba rief den Oberkellner an den Tisch, der dem Piccolo eine schallende Ohrfeige verabreichte, bevor er Nechyba persönlich den bestellten doppelten Goldblatt servierte. Dieses Getränk erhellte des Inspectors nachmittägliche Stimmung.
Mit Genugtuung erinnerte er sich an den Rapport beim Zentralinspector, der vor einigen Tagen stattgefunden hatte. Gorup von Besanez war hoch zufrieden, dass es endlich einen hieb- und stichfesten Beweis für die Beziehung zwischen der ermordeten Gräfin Hainisch-Hinterberg und Gotthelf – ihrem wahrscheinlichen Mörder – gab. Weiters legte dieses Ermittlungsergebnis den Verdacht nahe, dass der Planetenverkäufer auch das Dienstmädchen ermordet hatte,
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