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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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der Litzelsbergerin zu träumen. In diesem meditativen Zustand hatte er plötzlich eine Erscheinung: Ein tadellos gekleidetes, schlankes Mannsbild ging beschwingten Schrittes, den Hut keck in den Nacken geschoben, über die Gumpendorferstraße. Der Kerl flanierte am Café Sperl vorbei, bog in die Dreihufeisengasse und danach in die Engelgasse 68 ein. Auf der Schulter des Kerls hockte ein weißer Papagei.
    »Zahlen!«, brüllte Nechyba, fingerte einige Münzen aus der Tasche, drückte sie dem verdutzten Marqueur in die Hand, stürzte hinaus auf die Straße und lief mit hochrotem Kopf der Gestalt hinterher. Schnaufend bewegte er sich die Engelgasse hinunter, überquerte die stark befahrene Magdalenenstraße und kollidierte fast mit einer wütend bimmelnden Tramway. Zwischen den gemauerten Buden des Naschmarktes holte er den flott dahinschreitenden Gotthelf ein. Nechyba machte nicht viel Federlesen. Seine Rechte packte von hinten Gotthelfs Kragen und riss ihn mit einem gewaltigen Ruck nach unten. Gotthelf landete ruckartig auf dem Buckel und zappelte wie ein Maikäfer. Der erschrocken wegflatternde Papagei kreischte: »Geh scheißen!«
    Nach einer schmerzhaften Bruchlandung wurde Gotthelf von Nechyba am Genick in die Höhe gezogen und abgeführt. Dabei mussten sich die beiden durch eine gaffende Menschenmenge hindurchdrängen.
    Begleitet wurden sie von einem wild flatternden und ordinär schimpfenden Papagei.

IV/3.
     
Syrakus, 4. August 1903
     
    Ich wünschte, Du könntest jetzt hier sein und mit mir in dieser zauberischen Gegend den Strand entlangspazieren. Als ich dies unlängst abends tat, am Strand des mondbeschienenen Ionischen Meeres, hörte ich die Corso-Militär-Musik die Cavalleria rusticana spielen. Mascagni war einfach groß, als er die geschrieben hat! Ich hoffe, Dir geht es gut. Freue mich auf ein Wiedersehen in Wien.
     
Otto
    Aloysius Schönthal-Schrattenbach betrachtete Otto Weiningers Ansichtskarte. Je länger er sie anstarrte, desto melancholischer wurde er. Warum konnte Otto wochenlang Italien bereisen und er nicht? Was hatte er verbrochen, dass er diesen stickig heißen Sommer in Wien verbringen musste? Alle seine Freunde und Bekannten hatten sich in die Sommerfrische begeben. Und sogar Künstler wie Gustav Klimt befanden sich auf Sommerfrische. Nur er, der Herr von Schönthal-Schrattenbach, saß im faden Wien. Nein! So konnte es auf keinen Fall weitergehen! Der Baron verließ sein Zimmer, marschierte das Vorzimmer entlang und betrat – ohne anzuklopfen – das Speisezimmer, in dem seine Mutter das Mittagessen zu sich nahm. Sie erschrak so über sein abruptes Eintreten, dass sie sich fast verschluckte.
    »Was ist dir denn, Bub? Du siehst so echauffiert aus. Komm, setz dich zu mir und erzähl, was dir über die Leber gelaufen ist. Magst vielleicht einen Bissen mit mir essen? Die Reserl soll noch ein Gedeck bringen.«
    »Mutter! Ich will nix essen. Im Gegenteil: Ich bin schon ang’fressen 69 . Und zwar ordentlich! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich das alles da satthabe!«
    »Loisl, reg dich doch nicht auf. Was ist denn los?«
    Er legte ihr Weiningers Ansichtskarte auf den Tisch.
    »Da! Lesen Sie!«
    Die Baronin nahm ihre Lorgnette, las den kurzen Text und fragte: »Na und …?«
    »Na und? Da fragen Sie noch? Alle, alle sind auf Sommerfrische. Nur ich bin hier in Wien. Und warum? Weil meine Frau Mama der Meinung ist, dass wir uns die Sommerfrische finanziell nicht leisten können. Alle können sich eine Sommerfrische leisten, nur die Schönthal-Schrattenbachs nicht. Da, nehmen Sie sich ein Beispiel: Der alte Weininger finanziert seinem Sohn eine mehrwöchige Italienreise!«
    Seufzend legte die Baronin ihr Besteck beiseite, tupfte sich mit der Stoffserviette den Mund ab und verstaute sie hernach in einem hübsch bestickten Serviettentäschchen. Dann nahm sie einen Schluck Wasser, seufzte noch einmal und sah ihren Sohn lange an.
    »Loisl, schau: Du weißt doch, dass wir uns seit dem Tod deines Vaters keine großen Sprünge leisten können. Und das, was wir uns bisher leisten konnten, verdankten wir der Minerl, die jetzt leider nicht mehr unter uns weilt. Von ihrem Geld – und nur von ihrem Geld! – haben wir uns Extratouren wie längere Aufenthalte am Land oder Ausgaben für Garderobe oder auch die Begleichung deiner immer wieder anfallenden Spielschulden leisten können. Aber seit die arme Minerl tot ist, ist ihr Vermögen eingefroren. Erst wenn die Verlassenschaft eröffnet ist

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