Die Naschmarkt-Morde
des ebenfalls desperaten Stanislaus Gotthelf gelaufen.
Gotthelf schlief an ihrem Busen tief, zufrieden und glücklich. Er war im Ozean der Orliczek’schen Zärtlichkeiten untergetaucht. Wenn er nicht gerade schlief, erzählte er ihr Geschichten aus seinem Leben, zeigte ihr Kunststücke, die er mit dem Toni einstudiert hatte, und ließ sich im Übrigen von der Geliebten verwöhnen. Er vergaß völlig, welcher Wochentag oder wie spät es war. Ob es draußen regnete oder ob die Sonne schien, war ihm ebenfalls wurscht.
II/3.
Gleichmäßigkeit und Bequemlichkeit sind die wohl wichtigsten Bestandteile im Leben eines Faulpelzes und Nichtstuers. Andererseits ist immer dasselbe auf Dauer auch fad. Besonders dann, wenn man Tag und Nacht mit ein und demselben Menschen beisammen ist, mit dem man außer einer intensiven Bettgeschichte nichts gemeinsam hat. Da wandelt sich die Fadesse allmählich zur lähmenden Ödheit und diese in weiterer Folge zum zwischenmenschlichen Fegefeuer.
Dies war der Status quo des Gemütszustandes, den Stanislaus Gotthelf bei sich selbst konstatierte. Nachdem er sich circa zwei Wochen in den Fängen der Orliczek befunden hatte. Es ging ihm allmählich fürchterlich auf die Nerven, dass er außer der Orliczek nur den Toni als Ansprechpartner hatte. Und der war auch nicht gut gelaunt. Im Gegenteil. Seit geraumer Zeit brüllte er nur mehr: »Scheiße!«
Schließlich war der Toni die windige Luft des Wientals sowie die Gerüche und das Menschengewühl des Naschmarkts gewohnt. Dinge, auf die er nun schon ziemlich lange verzichten musste. Das Nachäffen der Orliczek’schen Stimme war für den Toni anfangs eine recht lustige Herausforderung gewesen, hatte aber auf Dauer seinen Reiz verloren. Dem schönen Stani ging es ähnlich mit Hennys Reizen. Während er anfangs voll wollüstigem Enthusiasmus im Meer des ihm dargebotenen Fleisches untergetaucht war, suchte er nun verzweifelt einen Rettungsring, der ihn vorm Ertrinken in den Orliczek’schen Wogen bewahrte.
Dieser Rettungsring tauchte in Person des Wenzel Beinstein auf, der eines Tages vor Henriettes Wohnungstür stand. Rhythmisch klopfte er. Gleichzeitig betätigte er mit ungeheurem Elan die Drehklingel. Kurzum: Er begehrte aufs Vehementeste Einlass. Mit einem gewaltigen Blumenbouquet ausgerüstet, flüsterte Beinstein zarte Liebesschwüre durch den Briefschlitz. Diese garnierte er mit zerknirschten Entschuldigungen und der Selbstbezichtigung, dass er sich wie ein riesengroßer Hornochse benommen hätte. Die Orliczek, die sich im ersten Moment gewaltig geschreckt und nicht gewusst hatte, was sie tun sollte, schmolz ob der Hartnäckigkeit ihres Langzeitverehrers dahin. Durch die verschlossene Tür hindurch hielt sie ihm eine fürchterliche Strafpredigt. Und es war ihr völlig egal, dass der im Bett liegende Stani dabei zuhörte. Das ungenierte Schmarotzertum Gotthelfs, der seit geraumer Zeit in ihrer Wohnung und auf ihre Kosten lebte, zehrte gleichermaßen an ihren Nerven wie auch an ihren nicht gerade üppigen finanziellen Reserven. Als sie nun dem Beinstein die Leviten las, stieg ihr plötzlich der Geruch von Geld in Form von Beinsteins sündteurem Eau de Toilette in die Nase. Sie dachte an all die kostbaren Parfums, Toiletteartikeln, Kleidungsstücke, Diners und Soupers, die ihr Beinstein über ein Jahrzehnt lang spendiert hatte.
Beinstein war ein für die Zeit um 1900 typisches Exemplar des Wiener Millionärs. Er verfügte über ein Vermögen, das sein Vater in den 20er- und 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts geschaffen hatte. Damals kaufte der alte Beinstein – ein sehr fleißiger, aus Böhmen zugewanderter Fleischhauer – um wenig Geld Grundstücke in den noch unverbauten Vorstädten Wiens. Gleichzeitig baute er seine Fleischerei nach und nach zu einer Wurstmanufaktur aus, die die Wirren der 1848er-Revolution unbeschadet überstand. In dem zehn Jahre später einsetzenden Wirtschaftswunder der Gründerzeit mauserte sich die Manufaktur zu einer veritablen Wurstfabrik. Zusätzlich wurde das Stadtgebiet von Wien damals zügig erweitert, und die ehemals billigen Vorstadtgründe waren plötzlich ein Vermögen wert. Solchermaßen gelangte der alte Beinstein zu unzähligen Millionen, die nach seinem Tod dem Junior in den Schoß fielen. Der hatte bis dahin dem lustigen Studentenleben gefrönt, ohne freilich jemals irgendeinen Studienabschluss erlangt zu haben. Als nunmehriger Fabrikant und mehrfacher Mietshausbesitzer investierte er sein Geld
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