Die Naschmarkt-Morde
Gotthelf schloss sich dieser Bestellung an und begann, charmant mit seiner attraktiven Begleitung zu plaudern. Es stach ihn der Hafer, und er begann das Spiel mit dem Feuer: »Wenn uns einer da so sitzen sieht, könnte er sich glatt denken, dass Sie – gnädige Frau – und ich nach einer langen aufregenden Nacht ein spätes, nachmittägliches Frühstück zu uns nehmen …«
»Das trifft vielleicht auf Sie zu«, antwortete die Orliczek, der bei dieser Avance des jungen Mannes ganz kribbelig wurde. »So, wie Sie aussehen, haben Sie sicher die ganze Nacht sowie den halben heutigen Tag durchgefeiert. Apropos: Wo haben Sie denn den komischen Vogel her?«
Liebevoll holte Gotthelf den Papagei, der es sich auf der Lehne eines benachbarten Sessels bequem gemacht hatte, zu sich her und sagte: »Na, Toni? Wo habe ich dich denn her, du komischer Vogel, du?«
»Komischerrrr Vogel, komischerrrr …«
»Benimm dich, Toni und begrüße die Dame an unserem Tisch. Sag: Küss die Hand!«
»Dame an unserrrm Tisch! Küss die Hand!«
Gotthelf gab dem Papagei zur Belohnung ein Stück Zucker und setzte ihn auf den Sessel zurück. Danach stand er auf, verbeugte sich, hauchte auf ihre Hand einen formvollendeten Kuss und stellte sich und seinen gefiederten Begleiter folgendermaßen vor: »Gestatten, gnädige Frau, Stanislaus Gotthelf mein Name. Und der komische Vogel heißt Toni. Er ist ein Papagei. Beim Ausüben meines Gewerbes – ich bin Planetenverkäufer – ist er mir behilflich. Toni übernimmt die Rolle Fortunas und wählt die Horoskopzetteln für meine Kundschaft aus.«
Die Orliczek beließ ihr feuchtes Patschhändchen in Gotthelfs kühler Hand, räusperte sich und stellte sich als Henriette Hugo 66 , Sängerin und Schauspielerin am Theater an der Wien vor. Er streichelte zart über ihren Handrücken und murmelte beeindruckt: »Ah, eine Künstlerin …«
Sie entzog ihm die Patschhand und trank ihr Glas leer. In ihrem Gesicht kehrte die vornehm blasse Gesichtsfarbe zurück und sie sagte souverän: »Also zwei Dinge möchte ich jetzt stante pede: erstens noch einen G’spritzten. Und zweitens, mein lieber Herr Gotthelf, möchte ich, dass Sie mich nicht so förmlich gnädige Frau nennen. Machen Sie mir doch die Freude und sagen Sie einfach Henny zu mir.«
Gotthelf schluckte. So rasch hatte ihn sein Charme noch selten zum Ziel geführt. Er bestellte umgehend zwei weitere G’spritzte, sah der Orliczek tief in die Augen und löffelte mit Bedacht die Eier im Glas. Sein Blick entfachte bei ihr jenes Kribbeln von vorhin, und sie stocherte ohne rechten Appetit in ihren Eiern herum. Als die vollen Gläser am Tisch standen, erhob er seines und sprach einen Toast aus: »Auf die unergründlichen Wege des Schicksals, die mich heute in Ihre Arme geführt haben, meine liebe Henny.«
Sie prosteten einander zu, tranken, plauderten, wobei sie allmählich vom Sie zum Du übergingen. Die Welt versank um sie herum, und als der Zahlkellner mit der Rechnung kam, weil er von einem Kollegen abgelöst wurde, beschlossen die beiden zu gehen. Ohne große Umstände nahm die Orliczek den Gotthelf in ihre Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung mit.
Nachdem er dort ihr Kribbeln in einem ersten Liebesakt gestillt hatte, wurde dem ziemlich mitgenommenen und auch recht übel riechenden Gotthelf ein heißes Bad eingelassen. Als sie ihm den Rücken wusch, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit, ihrem Werdegang und dass sie eigentlich nicht Hugo, sondern Orliczek hieß. Die folgenden Tage verbrachte das ungleiche Paar meist in Henriettes breitem Bett. Zwischendurch ging sie das Notwendigste einkaufen. Arbeiten musste sie nicht, da das Theater an der Wien Sommerpause hatte.
Apropos Theater an der Wien: Als Sängerin und Schauspielerin hatte sie es auf den Brettern, die die Welt bedeuteten, nie ganz an die Spitze geschafft. In jungen Jahren war sie auf die Rolle des süßen Mädels spezialisiert gewesen. Mit abnehmender Jugend und zunehmender Leibesfülle musste sie ins Fach der Mütter, Gouvernanten und komischen Alten wechseln. Rollen, die ihrem Selbstbewusstsein einen argen Dämpfer gaben. Einen weiteren Dämpfer hatte sie vor einer Woche von ihrem langjährigen Liebhaber, dem Wurstfabrikanten und Miethausbesitzer Wenzel Beinstein, erhalten. Dieser hatte kurzerhand die gemeinsam geplante Sommerfrische in Bad Aussee abgesagt und war stattdessen mit einer Ballettelevin ans Meer nach Abbazzia gefahren. Gedemütigt, verlassen und ziemlich desperat war sie in die Arme
Weitere Kostenlose Bücher