Die Naschmarkt-Morde
– das wird beiläufig in einer Woche der Fall sein –, werden wir als ihre einzigen leiblichen Verwandten und somit Erben wieder ein kommodes finanzielles Auskommen haben.
Aber bis dahin müssen wir von der Hand in den Mund leben. Glaubst du, mir hat es Spaß gemacht, unsere Köchin zu entlassen? Dass mir jetzt die Reserl zu Mittag und am Abend im Menagereindl das Essen aus dem Wirtshaus holen muss … Heute hat es übrigens ein ausgezeichnetes Beuschl mit Knödel gegeben. Das solltest du probieren, Bub.«
»Nennen Sie mich nicht Bub! Und das Beuschl können Sie selber essen. So ein Hundefraß … Geschnittene Lungenstücke mit Saft, zu denen alte, zerriebene Semmeln in Kanonenkugelform serviert werden. Nein danke!«
Damit verließ er das Speisezimmer und schloss die Tür hinter sich so schwungvoll, dass die fein geätzten Türgläser aufs Heftigste vibrierten. Die Baronin aber packte ihre Serviette wieder aus dem Täschchen aus, klingelte nach dem Dienstmädel und ließ sich den Rest des Kalbsbeuschls servieren. Eine Speise, die aus fein geschnittener und mit Essig befeuchteter Kalbslunge, in einer Einbrenn unter Beigabe von Rindssuppe, Speck, Sardellen, Kapern, Zitronenschalen – alles fein gehackt – und Petersilie zubereitet wurde; abgeschmeckt mit Salz, Pfeffer und einem Schuss Essig. Als Beilage wurden flaumige Semmelknödel gereicht. Ein Genuss, den sich die Baronin durch das echauffierte Benehmen ihres Sohnes keinesfalls verderben ließ.
V/3.
Fröhlich pfeifend, sperrte Nechyba die Tür seiner Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung auf, trat ein und legte die Einkäufe auf die Küchenanrichte. Mit einem Seufzer der Zufriedenheit zog er sich die drückenden Schuhe und danach die Socken aus. Die nackten Füße stellte er auf das kühle Linoleum des Fußbodens. Bei so einer Affenhitze schwollen ihm immer die Füße an; wenn er daheim war, genoss er es, barfüßig herumzulaufen. Er setzte sich, betrachtete versonnen seine dicken, roten Füße, wackelte mit den Zehen und starrte eine Zeit lang einfach vor sich hin. Nun bekam er Lust auf ein kühles Glas Wasser, doch er war vorerst zu faul aufzustehen, den Wasserkrug zu nehmen und draußen am Gang zur Bassena zu gehen. Beim Gedanken an ein Glas kühles Wasser kamen ihm die Jahre vor 1873 70 in den Sinn, als man das Wasser vom Wassermann unten auf der Straße oder von einem der städtischen Brunnen holen musste. Qualitativ war dieses G’schloder 71 natürlich in keiner Weise mit dem vorzüglichen Hochquellwasser zu vergleichen, das im Höllental am Fuß der Rax gefasst wurde und über unzählige Aquädukte nach Wien floss. Nechyba erinnerte sich an einen Ausflug, den er gemeinsam mit seinem Vater kurz vor dessen Tod unternommen hatte. Damals, im Jahr 1887, fuhren sie an einem Sonntag mit der Südbahn nach Wiener Neustadt und stiegen dort in die Bahnlinie nach Reichenau um. Von dort wanderten sie durch das wildromantische Höllental bis zur der Stelle, wo eine der großen Quellen gefasst worden war und wo von der Quelle eiskaltes Wasser in ein gemauertes Becken sprudelte. Sie schöpften – von der Wanderung erhitzt – mit beiden Händen das Quellwasser, tranken, kühlten sich Gesicht, Hände und Nacken. Der Anlass für diesen Ausflug war eine Belobigung, die Nechyba junior in der Woche davor vom Polizeipräsidenten persönlich erhalten hatte. Ihm war bei einem nächtlichen Kontrollgang ein flackerndes Licht bei einem Juwelier aufgefallen. Er überprüfte die Eingangstür und fand, dass sie aufgebrochen war. Nechyba betrat den Laden, brach dem ersten Einbrecher mit einem Faustschlag das Nasenbein, schnappte den zweiten bei der Gurgel und drückte diese so lang zu, bis der Spitzbube das Bewusstsein verlor. Damit klärte der junge Sicherheitswachebeamte eine Einbruchsserie, in der seine älteren Kollegen monatelang erfolglos ermittelt hatten. Nechyba wurde belobigt und bekam eine Prämie ausbezahlt. Weiters erhielt er die Chance, von der Sicherheitswache in den Dienst der k. k. Polizeiagenten überzuwechseln. Dieses Avancement feierte er mit seinem Vater in Form eines sonntäglichen Ausflugs nach Reichenau. Als sie im Gastgarten des Wirtshauses saßen, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Quelle befand, erhob sein Vater das Bierglas, prostete ihm zu und sagte auf Tschechisch, wie stolz er sei.
Ach Gott, der Herr Papa …
Er war im Jahr 1851 als Zugführer der k. k. Militärpolizeiwache nach Wien gekommen 72 . Bei den Kommandierungen zur
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