Die Naschmarkt-Morde
Militärpolizeiwache wurde keinerlei Rücksicht darauf genommen, ob jemand Deutsch verstand oder nicht. So geschah es, dass sich dieser Wiener Wachkörper großteils aus Tschechen rekrutierte, die im Volksmund Zarrucks genannt wurden und deren stereotype Redewendung bei Amtshandlungen »Nix Deutsch!« war. Joseph Maria Nechybas Vater bemühte sich zwar, der deutschen Sprache mächtig zu werden, doch als Mann von knapp 30 Jahren fiel ihm das nicht leicht. Er lernte im Dienst deutsche Brocken sprechen und verstand Deutsch auch recht gut, privat sprach er aber weiterhin Tschechisch. Auch deshalb, weil er im Prater das böhmische Wäschermädel Maria Suchova kennenlernte, das er 1853 heiratete und das ihm 1860 den Sohn Joseph Maria gebar. Als seine Frau zwei Jahre später an Typhus starb, war es – abgesehen von seinen tschechischen Untergebenen bei der Militärpolizeiwache – vor allem sein Sohn, mit dem er weiterhin Tschechisch sprach. Um die beiden männlichen Nechybas kümmerte sich nach dem Tod der Gattin und Mutter die Nachbarin Anna Grubenschlager, die gleichfalls verwitwet war. Aufgrund der fehlenden gemeinsamen Muttersprache war bei aller Herzlichkeit im Umgang immer eine gewisse Distanz zwischen den beiden Erwachsenen. Dies traf nicht auf Joseph Maria zu. Er plauderte mit seinem Vater Tschechisch und mit der Antschi Tant’ – wie er die Grubenschlager liebevoll nannte – Deutsch. So wuchs er zweisprachig auf. Ein Umstand, der ihm im Polizeidienst von Vorteil war und der ihn tolerant gegenüber Menschen anderer Herkunft sein ließ. Aufgrund dieser Geisteshaltung lehnte Nechyba übrigens den Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger und dessen Christlichsoziale Partei aufs Schärfste ab. Luegers Tiraden gegen Juden, Judäo-Magyaren und Tschechen waren Nechyba extrem zuwider. Den dumpfen, kleinbürgerlichen Geist, der das Weltbild der Christlichsozialen prägte, empfand er als bedrückend, ärgerlich und auch gefährlich.
Aber lassen wir die Politik …, dachte sich Nechyba, stand mit einem Ruck auf, griff sich den Wasserkrug und setzte sich Richtung Bassena in Bewegung. Als er draußen – noch immer bloßfüßig – das Wasser in den Krug rauschen ließ, wurde die Tür der Nachbarwohnung geöffnet, und eine alte Frau mit vogelartigem Gesicht lugte aus dem Türspalt. Nechyba, der das Quietschen der Türangel gehört hatte, drehte sich um und sagte: »Servus, Antschi Tant’! Wie geht es dir denn bei der Hitze? Soll ich dir auch ein Wasser hineintragen?«
»Ja Pepi, das wäre lieb … Bist heute schon früh vom Dienst nach Haus kommen? Magst vielleicht einen Liptauer? Ich hab einen frischen Liptauer g’macht …«
»Was? Jetzt mitten im Sommer? Jetzt kriegst doch nirgendwo einen Brimsen 73 .«
»Geh … Ich brauche keinen Brimsen, wenn ich einen Gusto auf Liptauer habe. Da nehme ich halt einen Topfen. Das schmeckt genauso gut.«
Der Pepi ging in die Küche der alten Frau, nahm einen Krug sowie ein Lavoir, füllte beide Gefäße draußen bei der Bassena und trug sie der Grubenschlager in die Küche. Diese hatte inzwischen Brotscheiben geschnitten und in einem Körbchen auf den Tisch gestellt. Daneben platzierte sie eine Steingutschale, in der sich der Liptauer befand. Pepi ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer an dem Tisch nieder. Ach Gott, die Antschi Tant’ …
Früher war sie eine rüstige Frau gewesen, heute machte es ihr Mühe, einen Krug Wasser von der Bassena in die Wohnung zu tragen. So ändern sich die Zeiten … Wie eine Mutter hatte ihn die Grubenschlager aufgezogen, von ihr lernte der immer hungrige und schon sehr früh aufs Essen fixierte Bengel auch die Grundregeln des Kochens.
Daumendick schmierte sich Pepi Nechyba den Liptauer aufs Brot, biss mit Genuss ab, kaute konzentriert und konstatierte: Die Antschi Tant’ hat recht! Für einen Liptauer tut es Topfen auch. Wichtig waren die Zutaten: schaumig gerührte Butter, im Mörser gestoßenes Pulver vom scharfen Kirschpaprika, fein gehackte Zwiebeln, Kapern, Gurkerln, eine Prise Salz, Kümmel sowie ein ebenfalls fein gehacktes Sardellenfilet. Nechyba goss sich und der alten Frau ein Glas Wasser ein. Seines trank er, da der Liptauer scharf war, in einem Zug aus und seufzte danach das zweite Mal zufrieden.
»Antschi Tant’, lass bitte die Wohnungstür offen, damit ich auf den Gang hinausschauen kann. Ich erwarte nämlich Besuch.«
»Besuch? Am Ende gar ein Mädel?«, kicherte die Alte.
»Geh, Antschi Tant’ … was redest denn da?
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