Die Nebel von Avalon
darüber sprichst.«
Morgaine sah, wie sich die Hände des jungen Mannes entspannten. Sie dachte:
Er glaubt, sie hat nachgegeben. Er kennt sie nicht und weiß nicht, daß sie zorniger ist denn je.
Lancelot war jung genug, um die Erleichterung in seiner Stimme hören zu lassen. »Ich bin Euch dankbar für Euer Verständnis, Herrin. Und wenn es Euch gefällt, will ich gern den Rat des Merlin suchen. Aber selbst die Christenpriester wissen, daß die Berufung zum Dienst Gottes ein Geschenk Gottes ist und nicht etwas, das sich einstellt, wenn man es wünscht oder nicht wünscht. Gott oder die Götter, wenn Ihr wollt, haben mich nicht gerufen oder auch nur einen Beweis dafür gegeben, daß Er… oder Sie… Wirklichkeit sind.«
Morgaine erinnerte sich an Vivianes Worte vor vielen Jahren:
Es ist eine zu schwere Bürde, geboren zu werden und sich dem Willen der Götter nicht zu beugen.
Aber zum ersten Mal fragte sie sich:
Was hätte Viviane wirklich getan, wenn ich im Lauf dieser Jahre vor sie getreten wäre und hätte ihr gesagt, ich wolle Avalon verlassen? Die Herrin ist zu sicher, den Willen der Göttin allein zu kennen.
Diese unbotmäßigen Gedanken erfüllten Morgaine mit Sorge. Sie schob sie schnell beiseite und richtete die Augen wieder auf Lancelot. Anfangs hatten sie nur seine Schönheit und seine Anmut geblendet. Jetzt betrachtete sie ihn genauer: der erste Flaum am Kinn – er hatte keine Zeit gehabt, sich nach römischer Sitte zu rasieren… oder wollte es nicht. Seine schlanken, wohlgeformten Hände, die für die Saiten einer Harfe oder das Heft eines Schwertes wie geschaffen waren… nur in der Handfläche und auf der Innenseite der Finger sah sie Schwielen… mehr an der rechten als an der linken Hand… an einem Unterarm trug er eine kleine Narbe… eine weißliche Linie, die schon sehr alt zu sein schien… auf der linken Wange sah sie eine andere… halbmondförmig … seine Augenwimpern waren lang wie die eines Mädchens, aber er hatte nicht dieses geschlechtslose Aussehen vieler junger Männer vor ihrer Reife… sie dachte an einen jungen Hirsch… sie glaubte, noch nie ein so männliches Wesen gesehen zu haben… Ihr waren solche Gedanken geläufig, und deshalb dachte sie:
Er hat nichts von der Weichheit einer weiblichen Erziehung an sich, was ihn irgendeiner Frau gefügig machen könnte. Er hat die Berührung der Göttin verweigert. Eines Tages wird er durch sie zu leiden haben…
Wieder wanderten Morgaines Gedanken weiter. Eines Tages, bei einer der großen Zeremonien, würde sie die Stelle der Göttin übernehmen. In ihrem Körper breitete sich eine angenehme Wärme aus, und sie dachte:
Ich wollte, dann wäre er der Gott…
versunken in ihre Tagträume, entging ihr, was Lancelot und die Herrin sprachen, bis sie ihren Namen hörte. Sie kam zu sich, als sei sie irgendwo in einer anderen Welt gewesen.
»Morgaine?« wiederholte Viviane, »mein Sohn ist lange nicht in Avalon gewesen. Nimm ihn mit dir. Wenn ihr wollt, verbringt den Tag am See. Du bist heute von deinen Pflichten befreit. Ich erinnere mich, als Kinder seid ihr gern am Ufer entlanggegangen. Galahad, du wirst heute mit dem Merlin zu Abend essen und bei den jungen Priestern untergebracht werden, die sich nicht zum Schweigen verpflichtet haben. Und wenn es dein Wunsch ist, kannst du morgen mit meinem Segen ziehen.« Er verbeugte sich tief, und sie gingen hinaus.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Morgaine wurde bewußt, daß sie die Anrufung der aufgehenden Sonne versäumt hatte. Nun ja, die Herrin hatte ihr erlaubt fernzubleiben. Außerdem gehörte sie nicht mehr zu den jüngeren Priesterinnen, die nur unter Schuldgefühlen dem Gebet fernbleiben konnten und dafür bestraft wurden. Eigentlich wollte sie heute ein paar der jüngeren Frauen bei der Zubereitung der Farbe für die Ritualgewänder beaufsichtigen – aber das konnte einen oder auch mehrere Tage warten.
»Ich hole uns aus der Küche Brot«, sagte sie, »wir können Wasserhühner jagen, wenn du möchtest… jagst du gerne?«
Er nickte und lächelte sie an. »Vielleicht ist meine Mutter weniger wütend auf mich, wenn ich ihr ein paar Enten bringe«, sagte er beinahe lachend. »Ich würde gerne Frieden mit ihr schließen. Im Zorn ist sie immer noch furchteinflößend. Als kleiner Junge glaubte ich, daß sie ihre Sterblichkeit ablegte und zur Göttin wurde, wenn ich nicht bei ihr war. Aber ich sollte nicht so über sie sprechen. Wie ich sehe, bist du ihr sehr ergeben.«
»Sie war mir
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