Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
Berlin 2012), darum, den drei großen Vorgängern eine korrigierende Sicht entgegenzusetzen. Ein »neuer Begriff«, verkündet der US-Historiker, müsse her, um Bismarcks Lebensgeschichte zu erklären. Wie der lauten könnte, erläutert er im einführenden Kapitel: Bismarcks Macht habe nicht auf politischen Institutionen beruht, auch nicht auf einem stabilen gesellschaftlichen Rückhalt, sondern »auf der Souveränität eines außergewöhnlichen, gigantischen Selbst«. Darunter versteht der Autor eine geheimnisvolle, ja dämonische Fähigkeit, die es Bismarck erlaubt habe, sich über alle Schranken hinwegzusetzen und die Bühne in Preußen-Deutschland und danach in Europa zu dominieren. Nun wird niemand bestreiten, dass Bismarck ein Politiker von ungewöhnlichem Format war, ausgestattet mit einem robusten Machtwillen. Doch dass alles, was er durchsetzte, sich einzig und allein der magischen Anziehungskraft seiner Persönlichkeit verdankt haben soll – das ist eine Mystifikation, für die Bismarck selbst vermutlich nur milden Spott übrig gehabt hätte. Denn wie kaum ein anderer Politiker des 19. Jahrhunderts war er sich der Grenzen seines Handelns stets bewusst. Trotzdem kann man die Biographie mit Gewinn lesen. Denn Steinberg hat sich intensiv darum bemüht, auch weniger bekannte Zeugnisse von Zeitgenossen Bismarcks, Bewunderern und Gegnern, Deutschen und Ausländern, zusammenzutragen. In Tagebüchern, Briefen und Memoiren kommen sie ausgiebig zu Wort. Auf diese Weise gelingen immer wieder Momentaufnahmen, die Aufschluss geben über die frappierenden Widersprüche von Bismarcks Persönlichkeit.
Im Jahr 1924, kurz nach Überwindung der Hyperinflation, erschien der erste Band der »Gesammelten Werke« Otto von Bismarcks, bald nach dem Alterssitz des ehemaligen Reichskanzlers »Friedrichsruher Ausgabe« genannt. Die Edition sollte, wie es im Vorwort hieß, »ein Denkmal« sein, »das Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung dem Reichsgründer errichtet«. 1935, als der letzte der neunzehn großformatigen Bände herauskam, gehörte die viel geschmähte Weimarer Republik bereits der Geschichte an, jubelte der Bearbeiter Werner Frauendienst: »Wie eine Schicksalsfügung mutet es an, daß die Vollendung in eine neue Zeit fällt …, dem Dritten Reich wird das fertige Werk geschenkt.«
Schon immer waren die »Gesammelten Werke« ein Ärgernis, weil die tagespolitischen Absichten auch Auswahl und Kommentierung der Dokumente beeinflusst hatten. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Otto-von-Bismarck-Stiftung sich vor einiger Zeit entschlossen hat, mit einer »Neuen Friedrichsruher Ausgabe« die Einseitigkeiten und Verzerrungen der alten zu korrigieren. Das Unternehmen konzentriert sich zunächst auf die Reichskanzlerschaft Bismarcks zwischen 1871 und 1890, die in der früheren Edition sträflich vernachlässigt wurde. Doch soll im Anschluss daran auch der gesamte Zeitraum vor 1871 neu bearbeitet und um eine Fülle bislang unbekannter Quellen ergänzt werden. Am Ende werden es wohl 30 Bände werden – ein ehrgeiziges Projekt, das mit dem 200. Geburtstag Bismarcks 2015 noch nicht zum Abschluss gebracht sein wird.
Bereits die ersten Bände (Abteilung III: 1871–1898; Schriften, Bd. 1:1871–1873; Bd. 2:1874–1876; Bd. 3:1877–1878; Bd. 4:1879–1881; Bd. 5:1882–1883; Bd. 6:1884–1885; Paderborn 2004–2011) zeigen, wie sinnvoll die Anstrengung ist und welche Impulse davon auf die Bismarck-Forschung ausstrahlen werden. Viele Dokumente, aus den verschiedensten Archiven zusammengetragen, werden erstmals präsentiert. In ihrer Summe bieten sie zwar keine grundlegend neue Sicht auf die der Reichsgründung folgende Phase, doch treten manche Züge in Bismarcks Denken und Handeln schärfer hervor. Sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik zeigt er sich keineswegs immer als rationaler, jederzeit kontrolliert agierender Machttaktiker, sondern auch als ein von irrationalen Ängsten getriebener Politiker, welcher der Dauerhaftigkeit der von ihm geschaffenen Ordnung nicht recht traute.
In seiner Edition »Bismarcks spanische ›Diversion‹ 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg« (3 Bde., Paderborn 2003–2008) hat Josef Becker mit einer zählebigen Legende gebrochen: Es war nicht der französische Kaiser Napoleon III., sondern der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der 1870 zum Konflikt trieb. Auf der Basis eines überwältigenden Quellenmaterials kann Becker nachweisen,
Weitere Kostenlose Bücher