Die nervöse Großmacht 1871 - 1918: Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs (German Edition)
dass Bismarck die Kandidatur eines Hohenzollernprinzen für den spanischen Thron sehr zielstrebig als Lockmittel nutzte, um Frankreich in den Krieg hineinzuprovozieren – einen Krieg, den er brauchte, um die kleindeutsche Einigungspolitik aus der Sackgasse herauszuführen. Sein Kalkül ging auf: Am Ende stand Napoleon III. als Aggressor da, während sich der Preuße in der Rolle der verfolgten Unschuld aufführen durfte.
Kritisch fällt auch das Urteil von Konrad Canis aus. Der ehemalige DDR-Historiker hatte bereits mit seinem Buch »Von Bismarck zur Weltpolitik« (Berlin 1997) einen wichtigen Beitrag zur deutschen Außenpolitik der Nach-Bismarck-Ära geleistet. Sein anschließendes Werk »Bismarcks Außenpolitik 1870–1990« (Paderborn 2004) hält sich auf ähnlich hohem Niveau. Die Kernthese lautet: Die außenpolitische Existenz des Kaiserreichs war von Anfang an in einem größeren Ausmaß gefährdet, als es die Zeitgenossen damals erkennen konnten oder wahrhaben wollten. Der Reichskanzler wird geschildert als ein Politiker, der sich der Zerbrechlichkeit seiner Schöpfung wohl bewusst war. Dabei habe er sich keineswegs, wie der Autor – von gängigen Bismarck-Deutungen abweichend – darlegt, darauf beschränkt, das Deutsche Reich als »saturiert« zu erklären und vom Status quo als dem Maximum des Erreichbaren auszugehen. Vielmehr sei er ständig auf der Suche nach Alternativen gewesen, um die Stellung des Reiches auszubauen und zu sichern. Selbst der Gedanke an eine friedliche Vormacht in Europa habe ihm nicht so fern gelegen. »Es geht an der Sache vorbei, Bismarck als Kriegs- oder Friedenspolitiker sui generis zu bewerten. Die Sicherheit des Reiches stand ihm obenan.« Und diese Sicherheit blieb, das unterstreicht der Autor, auch in den Jahren zwischen 1879 und 1883 prekär, als Bismarck das Netz seines vielgepriesenen Bündnissystems knüpfte.
Am 9. April 1875 erschien in der Berliner »Post« ein Artikel mit der Überschrift »Ist der Krieg in Sicht?«. Dieser Artikel markierte den Auftakt einer diplomatischen Krise, an deren Ende Bismarck die empfindlichste Niederlage in seiner Karriere als Außenpolitiker hinnehmen musste. Johannes Janorschke ist in seinem Buch »Bismarck, Europa und die ›Krieg-in-Sicht‹-Krise von 1875« (Paderborn 2010) den Ursachen und den einzelnen Phasen der Krise nachgegangen. Gegenüber bislang vorliegenden Studien zeichnet sich die Arbeit durch eine intensive Einbeziehung aller beteiligten europäischen Großmächte aus. Bismarcks Verhalten in den kritischen Wochen wird als »politische Gratwanderung« beschrieben: Einerseits habe er einen offenen Konflikt mit Frankreich vermeiden, andererseits aber auch das auf Revanche für die Niederlage von 1870 sinnende Nachbarland zwingen wollen, von seinen forcierten Rüstungsanstrengungen Abstand zu nehmen. Gerade durch diese doppelgleisige Strategie habe er aber den Argwohn der übrigen Mächte erregt, dass er mehr im Schilde führe, als nur eine Drohkulisse aufzubauen. Sie nutzten die Chance, um dem Reichskanzler Grenzen aufzuzeigen und ihren eigenen Interessen Geltung zu verschaffen. Daraus leitet der Autor den Schluss ab: »Das Maß, in dem Bismarck die europäische Politik zu dominieren vermochte, hing ganz von dem Geschick der übrigen Mitspieler ab.«
Wie schwierig es für Bismarck war, den Primat der Politik auch gegenüber den »Halbgöttern« im Generalstab zu behaupten, das belegt Michael Schmid in einer umfangreichen Untersuchung: »Der ›Eiserne Kanzler‹ und die Generäle. Die deutsche Rüstungspolitik in der Ära Bismarck 1871–1890« (Paderborn 2002). Das Buch bietet vor allem Einblicke in das Denken der Militärs, die in den achtziger Jahren zunehmend mit einem Präventivkrieg liebäugelten, von Bismarck aber nach allen Regeln diplomatischer Kunst an der Ausführung ihrer abenteuerlichen Planspiele gehindert wurden.
Als Kronprinz Friedrich Wilhelm Anfang März 1888 als Friedrich III. den Thron bestieg, war er bereits ein vom Kehlkopfkrebs gezeichneter, todkranker Mann. So konnte er nur 99 Tage regieren. Mit ihm, so sahen es nicht nur viele liberale Zeitgenossen, sondern auch manche Historiker, sei eine große Hoffnung auf eine freiheitliche Entwicklung zu Grabe getragen worden. Aber war Friedrich III. überhaupt ein Liberaler? Und wollte er tatsächlich an den bestehenden Machtstrukturen etwas ändern? Wenn es eine Quelle gibt, die in dieser alten Streitfrage Aufschlüsse verspricht, dann sind es die
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