Die Netzhaut
Kofferraum ausgebreitet war. Unmittelbar an der Rückenlehne lag ein kleiner Gegenstand. Roar nahm eine Taschenlampe und richtete den Lichtkegel darauf. Es war ein Ring.
Der Techniker gab ihm ein Paar Schutzhandschuhe. Nachdem er sie angezogen hatte, beugte er sich weit vor, nahm den Ring in die Hand und hielt ihn ins Licht. Es war ein goldener Ehering, der eine Inschrift trug.
»30-5-51«, las er. »Dein Aage.«
33
Freitag, 9. Januar
J ennifer Plåterud wusste nicht, wie viele Obduktionen sie im Lauf der Jahre schon durchgeführt hatte. Aus verschiedenen Gründen dachte sie, dass ihr die bevorstehende Obduktion später einmal im Gedächtnis bleiben würde. Zu später Stunde hatte sie gestern Abend die äußere Leichenschau beendet sowie die nötigen Proben von Blut, Haupthaar, Geschlechtshaar, Samenresten, Speichel und Schmutzresten unter den Nägeln veranlasst. Sie hatte Leif angerufen und mit ihm abgesprochen, wo die Eröffnungsschnitte platziert werden sollten. Der Präparator war ein alter Hase, der stets zuverlässige Arbeit ablieferte, und als Jennifer um vierzehn Minuten nach sieben das Licht im Obduktionssaal anschaltete, waren die Körperöffnungen der Leiche, die auf dem Stahltisch lag, bereits geöffnet und das Gehirn mit einem präzisen Sägeschnitt freigelegt worden.
Sie benötigte zuerst ein paar Minuten Zeit, um sich einen Plan für die Vorgehensweise zurechtzulegen. Danach stellte sie Eiterschalen, Probegefäße und Sonden bereit. Die Stipendiatin erschien um zehn nach acht. Sie war eine alleinerziehende Mutter, die keinen Wert auf anstrengende Nachtschichten legte und eine alles andere als leidenschaftliche Beziehung zur Pathologie pflegte. Glücklicherweise war sie feinmotorisch begabt, was ihr fehlendes Engagement ein Stück weit aufwog. Allerdings hatte sie die Neigung zu unpassenden Kommentaren und begann auch gleich damit, sich über den mächtigen, wächsernen Körper auf dem Stahltisch auszulassen, der einem Mann gehörte, den sie aus dem Fernsehen kannte.
»Gehört dieser Körper noch irgendjemand?«, fragte Jennifer mit Schärfe. Sie konnte Smalltalk am Seziertisch nicht ausstehen. Die Stipendiatin verstand den Hinweis und nahm sich zusammen.
In den nächsten Stunden arbeiteten die beiden Frauen intensiv und mit höchster Konzentration daran, den Körper von Elias Berger in seine Einzelteile zu zerlegen. Das Gehirn wurde vom verlängerten Mark gelöst und herausgehoben. In frischer Form wurde seine Oberfläche genau in Augenschein genommen, ohne dass sie irgendwelche Besonderheiten entdeckten. Wie nach dem äußeren Erscheinungsbild zu vermuten gewesen war, gab es weder nennenswerte mechanische Schäden noch missgebildete Blutgefäße. Jennifer beschloss, das Gehirn für eine gründlichere Untersuchung in Formaldehyd zu fixieren.
Gegen zehn kam Professor Korn. Er war erst an diesem Morgen von einer längeren Reise zurückgekehrt und hatte eigentlich am Wochenende frei, doch nachdem er die Nachrichten gehört hatte, war er vom Flughafen direkt zum Institut gefahren.
Jennifer teilte ihm die wesentlichen Informationen mit: keine sichtbare Schädigung der inneren Organe, Zustand bisher vereinbar mit angenommener Todesursache, nämlich einer Überdosis Heroin.
»Ich bleibe heute hier«, versicherte Korn. »Wir haben so viele Anfragen von den Medien, dass sich jemand darum kümmern sollte.«
Jennifer war mehr als froh über seine Anwesenheit. Nicht dass sie etwas dagegen hatte, mit Journalisten zu sprechen, doch könnte sie ohnehin nichts von dem verraten, was sie bereits wusste oder was sie annahm. Sie beschäftigte sich wieder mit der geöffneten Bauchdecke, folgte den Blutgefäßen bis zur Leber, die genauso aufgedunsen und fetthaltig war, wie man es von jemand erwarten konnte, der stets sein Image als passionierter Drogenkonsument gepflegt hatte. Als sie gerade das Skalpell an der Unterseite ansetzte, um die Leber herauszulösen, entdeckte sie eine Geschwulst. Sie war so groß wie ein Golfball, aber mehr oval und mit einer knotigen Oberfläche.
Um kurz nach elf machte sie eine Pause und versuchte, Viken anzurufen, um ihm einen vorläufigen Bericht zu geben, erreichte aber nur seinen Anrufbeantworter. Dann klingelte ihr eigenes Handy. Die Nummer auf dem Display war ihr unbekannt, und eigentlich hatte sie auch gar keine Zeit, den Anruf entgegenzunehmen, tat es aber dennoch.
»Hier ist Ragnhild Bjerke … die Mutter von Mailin.«
Jennifer stutzte darüber, dass Frau Bjerke es
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