Die Netzhaut
hinunter und bleibt erst an der Wasserkante stehen. Im Schatten holt jemand mit einem riesigen Hammer zum Schlag aus, doch wird er von den Wellen übertönt, die schäumend Jos Füße umspülen.
An der Wohnungstür stößt er auf Arne.
»Ach, ist ja interessant. Lässt sich der junge Herr auch mal wieder blicken.«
»War mit einem anderen Jungen zusammen«, weicht Jo aus.
»Du hast uns Bescheid zu sagen, wo du bist. Meinst du etwa, wir können uns hier erholen, wenn wir die ganze Zeit nach dir suchen müssen?«
Die Frage bleibt für ein paar Sekunden in der Luft hängen.
»Nini ist krank!«, knurrt Arne, als wäre das eine Neuigkeit. Nini ist immer krank. Ohrenentzündung, Atemprobleme. Immer verträgt sie irgendetwas nicht, vielleicht liegt es einfach an der Hitze und der Klimaanlage, dass sie nicht richtig Luft bekommt. Oder das Kinderschwimmbecken ist nicht sauber genug. Alles Dinge, über die seine Mutter sich beklagt, ohne einen
damned shit
dagegen zu unternehmen. »Du passt auf sie auf, während wir beim Essen sind.«
»Okay«, sagt Jo und ist erleichtert darüber, dass er beim Essen nicht mit ihnen zusammensitzen muss. Dass Jo sofort einwilligt, stimmt Arne ein wenig milder.
»Wir bringen dir was zu essen mit. Falls du nicht nachher alleine essen willst.«
»Ist okay«, wiederholt Jo.
»Cola steht im Kühlschrank«, sagt Arne, fast gutmütig. »Aber rühr die anderen Flaschen nicht an«, fügt er grinsend hinzu und schlägt Jo kumpelhaft mit der Faust auf die Schulter.
Er stopft Nini, die auf dem Sofa sitzt, ein paar Kissen in den Rücken. Sie atmet so schwer, dass sie nicht viel reden kann. Aber sie verfolgt einen Zeichentrickfilm im Fernsehen. Mutter hat den Luftbefeuchter eingeschaltet. Er könne sie jederzeit holen, wenn sich Ninis Zustand verschlechtere, sagt sie. Glaubt sie etwa, er würde sich im Speisesaal zusammen mit ihnen blicken lassen? Eher würde er zur Rezeption laufen und den Notarzt holen, oder den Vater von Daniel.
Nach einer halben Stunde kommt Truls. In einer Tüte sind zwei Plastikbecher. Lasagne und Fleischklößchen mit Soße.
»Mama und Papa kommen gleich«, verkündet er.
Jo pfeift darauf.
»Und das glaubst du?«
»Sie wollten nur fertigessen.«
Truls ist acht und hat noch keinen Schimmer vom wirklichen Leben. Jo lacht derb und will seinem Bruder am liebsten sagen, was Sache ist, verkneift es sich aber. Soll der ruhig noch eine Weile an den Weihnachtsmann glauben, denkt er und fühlt sich als guter großer Bruder. Erneut dieser Gedanke, mit Truls und Nini abzuhauen. Er und Ylva, denn es kann gut sein, dass sie mitkommt, nachdem sie in der Höhle waren, die sie ihm zeigen will. Plötzlich ist er stinkwütend auf seine Mutter und Arne, besonders auf seine Mutter. Niemand hat ihn gefragt, ob er sich vorstellen kann, den ganzen Abend im Appartement zu bleiben. Das wird er auch nicht tun. Er wird abwarten, bis Nini schläft, vielleicht auch bis Truls eingeschlafen ist, was meist nicht lange dauert. Er will raus, egal wie schlecht es Nini geht. Wenn sie zu atmen aufhört und morgen früh leblos und mit blauem Gesicht gefunden wird, haben sie selber Schuld.
Im Bad zieht er sich aus. Steht eine Weile vor dem Spiegel, beugt sich vor und blickt an seinem Körper hinab bis zum Nabel. Schließt er die Augen, sieht er Ylva vor sich. Sie trägt einen Bikini, ihre nackten Schultern sind warm. Wenn er will, kann er sie dazu bringen, die Hand vorne auf seine Shorts zu legen.
Ich kenne einen Ort,
sagt sie sehr leise, damit niemand sie versteht. Sie erreichen das Ende des Strands und klettern über die schroffen Felsen. Nein, sie gehen um die Felsen herum, waten durch das warme Wasser, bis sie die Bucht auf der anderen Seite erreichen.
Ich kenne eine Höhle,
sagt Ylva, und sie spürt, was sich unter seinen Shorts abspielt, bleibt stehen und dreht sich zu ihm um. Dann küssen sie sich.
Da ist jemand an der Wohnungstür. Jo zuckt zusammen, huscht unter die Dusche, dreht den Hahn auf. Das kochend heiße Wasser lässt ihn vor Schmerz aufstöhnen.
»Jo?«
»Ich bin unter der Dusche!«, ruft er und stellt den Hebel ganz auf Blau.
»Findest du es nicht ein bisschen spät zum Duschen?«, fragt seine Mutter. »Ich dachte, du hast dich schon hingelegt.«
Er hört, dass sie sich auf die Klobrille setzt. Sieht ihre Konturen durch den dünnen Vorhang.
»Willst du nicht noch mal weg?«, fragt er.
»Nicht solange es Nini nicht gutgeht, weißt du.«
Sie ist fertig und spült. Er hört ihrer
Weitere Kostenlose Bücher