Die Netzhaut
Kopfbewegung in Jos Richtung. »Vor allem nicht unter Wasser.«
»Ach so?«
»Der ist gestern bestimmt fünfzig Meter weit getaucht. Gegen die Strömung. Total verrückt.«
Diese Worte hatte er auch gestern benutzt, obgleich er sie heute betont, als wolle er ihn aufziehen. Doch Jo scheint sich wirklich Respekt verschafft zu haben.
»Ist das wahr, Jo?«
»So ziemlich.«
»Da musst du wirklich ein riesiges Lungenvolumen haben«, sagt der Vater beeindruckt. »Das habe ich übrigens auch beim Fußball gemerkt. Du hast die anderen schier in Grund und Boden gerannt.«
»Wo kommt man hin, wenn man einfach immer weiterschwimmt?«, fragt Jo, um das Thema zu wechseln.
»Immer weiter?« Daniels Vater blickt zum Horizont. »Also irgendwann kommt man nach Afrika.«
»Ich meine, wo in Afrika?«
»Vielleicht Ägypten oder Libyen. Kommt drauf an, ob du direkten Kurs halten kannst. Ich schlage vor, wir begnügen uns damit, zu den Bojen zu schwimmen.«
Bis dorthin sind es noch zwanzig, maximal dreißig Meter. Jo schießt nach unten, bis er den Sandboden erreicht, folgt ihm, als er sich ins Dunkle hinabsenkt. Es sticht in den Ohren, denn er ist bestimmt drei Meter unter Wasser. Weit über ihm sieht er, wie die Beine der anderen die zerbrechliche Oberfläche durchstoßen. Es pocht dumpf in seinem Kopf, als stünde dort jemand und würde gegen das Innere seines Schädels schlagen. Wenn ich nicht auftauche, schießt es ihm durch den Kopf, sondern so lange hier unten bleibe, bis ich fort bin, dann übernimmt
er
das Kommando, der dort mit seinem Vorschlaghammer im Dunkeln steht.
In diesem Moment erblickt er über sich die leuchtende Boje, fährt herum, schießt nach oben und durchstößt die Oberfläche, unmittelbar bevor Daniel und sein Vater bei ihm sind.
*
Die Sonne ist schon halb hinter den Berggipfeln im Westen verschwunden.
»Hast du gemerkt, wie schnell es hier dunkel wird?«, fragt Jo. Er zeichnet eine steil abfallende Kurve an den Himmel. »Die Sonne steht direkt über dir, und dann fällt sie. So.«
Daniel ist ganz seiner Meinung.
»Aber das ist nichts gegen Tansania.«
»Warst du schon mal in Afrika?«
»Ja. Da musst du dich wirklich beeilen, wenn es Abend wird. Es gibt überhaupt keine Dämmerung. Als würde jemand plötzlich das Licht ausschalten. Alles ist dunkel. Keine einzige Straßenlaterne. Echt cool.«
Die Steinplatten sind immer noch warm, aber sie brennen nicht mehr unter den Füßen und verursachen Blasen. Sie gehen barfuß, das Handtuch über die Schulter geworfen, und folgen ihren Schatten. Wenn Jo ein Stück vorausgeht, sind sie gleich lang.
Die Leute sind schon auf dem Weg ins Restaurant. Er denkt, dass er irgendwas essen muss, aber er will auf keinen Fall zusammen mit Mutter und Arne gesehen werden. Ein paar Süßigkeiten müssen reichen.
Er geht zum Kiosk.
»Ich warte am Pool«, sagt Daniel. »Dort treffen wir uns immer vor dem Essen.«
Als Jo wiederkommt und ein Schokoladeneis isst, sitzt die Clique am Schwimmbecken. Auch
sie
ist da. Sie hat es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht, mit dem Rücken zu ihm. Die dicke Blonde sitzt auf dem Stuhl daneben.
»Nachtisch vor dem Essen? Gute Idee!«, meint Daniel. »Wir wollen nachher noch was unternehmen.«
Ylva dreht sich um und wirft Jo einen Blick zu. Er wirft das halb gegessene Eis in den Mülleimer.
»Wo wollt ihr hin?«
»Erst mal rauf zur Minigolfbahn.« Daniel dämpft seine Stimme, als er fortfährt: »Und vielleicht später zu der Bar, die weiter hinten an der Straße liegt. Du musst unbedingt mitkommen.«
Die kleine Dicke kichert. Ylva wirft ihr einen kurzen Blick zu. Die beiden gehen offenbar auch mit. Jo stellt sich vor Ylvas Liegestuhl, und aus dem Augenwinkel hinter seiner Sonnenbrille sieht er, dass sie den Kopf hebt und ihn mustert. In diesem Moment wird ihm klar, dass Ylva vorgeschlagen hat, dass er mitkommen soll.
»Klar, ich bin dabei«, sagt er zu Daniel und achtet darauf, wie sie reagiert. Sie lächelt und sieht zufrieden aus … Den ganzen Tag schon hat sich die Wärme in ihm aufgestaut. Er hasst diese Wärme. Er könnte sich zu ihr hinunterbeugen, ihren Kopf in beide Hände nehmen, sich zu etwas hinreißen lassen. Er wirft einen Blick auf die Uhr, murmelt, dass er nach Hause muss, und geht mit ruhigen Schritten zur Treppe. Erst als er die Bar hinter sich gelassen hat und sie ihn nicht mehr sehen können, beginnt er zu laufen. Eilt am Appartement vorbei, biegt beim letzten Gebäude um die Ecke, rennt zum Strand
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