Die Netzhaut
Mordmotive auszulassen. Das half Roar sogar ein wenig, sich zu entspannen. Sein Freund war ein guter Erzähler, und Roar hatte schon immer gedacht, dass Dan-Levi es als Prediger oder Strafanwalt noch weiter gebracht hätte als als Journalist.
»Grüß Sara von mir«, sagte er schließlich, ehe er auflegte. Danach wunderte er sich über sich selbst. Es war lange her, dass er seiner Jugendliebe Grüße hatte ausrichten lassen.
Der Konferenzraum war brechend voll, als Roar sich mit fast vierzigminütiger Verspätung zur Tür hereinquetschte. Er musste sich hinten an die Wand neben die Tür stellen. Außer Viken waren alle fünf Taktiker und mehrere Kriminaltechniker anwesend. Sogar der Dezernatsleiter Sigge Helgarson gab sich die Ehre. Roar tröstete sich damit, dass er normalerweise immer absolut pünktlich war und so gesehen etwas guthatte. Sein Vater pflegte immer zu sagen: »Ein Mal ist kein Mal. Zwei Mal ist Gewohnheit.«
Viken hielt gerade einen kleinen Vortrag über das Erstellen von Täterprofilen. Er erläuterte Theorien, mit denen er während seiner Zeit in England Bekanntschaft gemacht hatte. Schon mehrmals hatte er Roar anhand praktischer Beispiele verdeutlicht, dass die Kenntnis des psychologischen Täterprofils der Schlüssel zur Lösung komplizierter Mordfälle sein konnte. Wie Roar allerdings festgestellt hatte, gab es im Dezernat nicht viele Kollegen, die dieses Interesse teilten. Viken stand immer noch in Kontakt mit einem pensionierten Kollegen aus Manchester, »einem der Topexperten auf diesem Gebiet«, wie er stets betonte, ohne dass dies seinen Vorgesetzten oder seine Kollegen besonders beeindruckt hätte.
»Das psychologische Täterprofil in den Fällen Bjerke und Richter ist auffallend ähnlich«, stellte er fest.
Er stand auf, griff zu einem Stift und schrieb ein paar Stichworte an die Tafel. »Ylva Richter kannte ihren Mörder vermutlich von früher. Er war ungefähr in ihrem Alter und dürfte einen ähnlichen sozialen Hintergrund haben. Wahrscheinlich hat er den Mord nicht geplant, sondern sich seinem Opfer mit anderen, vielleicht sexuellen, Absichten genähert. Dabei hat er die Kontrolle über sich verloren, was womöglich mit einer Abweisung in Verbindung steht.«
»Und die Augen?«
»Eine Bestrafung. Sadistische Aggression. Es kann auch eine symbolische Bedeutung haben.«
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, bemerkte den Neuankömmling jedoch nicht. »Der Täter dürfte nach der Tat einige Änderungen vorgenommen haben. Wenn er aus derselben Gegend kam, ist er vielleicht umgezogen, zumindest zeitweilig. Vielleicht hat er sein persönliches Umfeld, seinen Arbeitsplatz oder die Schule gewechselt. Was seinen Hintergrund angeht, war er vielleicht selbst einmal grober Gewalt oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt.«
»Und dort liegt also das Motiv?«, wollte Sigge Helgarson wissen.
Der Dezernatsleiter war nur wenige Jahre älter als Roar, ein schmächtiger, blasser Isländer, der aussah, als litte er permanent unter Schlafmangel. Viken zufolge lag das an seinem ständigen Kampf, seine Führungsaufgabe mit seinem Familienleben unter einen Hut zu bringen.
Der Kommissar nickte ein paarmal bedächtig, als habe er schon auf die Frage gewartet und freue sich, dass sie endlich gestellt wurde.
»Das Motiv einer solchen Tat hat stets mehrere Facetten. Fassen wir noch mal zusammen: Mailin Bjerke versteckt einen Computerausdruck, der von dem Ylva-Fall handelt. Unmittelbar darauf wird sie ermordet. Jim Harris hat vielleicht etwas gesehen, das mit ihrer Entführung oder Ermordung zu tun hat. Ein paar Tage später wird er aus dem Fjord gefischt. In
VG
deutet Berger an, dass er weiß, was mit Mailin passiert ist. Bevor er sich näher dazu äußern kann, ist auch er tot. Natürlich können wir nicht ausschließen, dass es keinen Zusammenhang zwischen diesen Vorfällen gibt, doch ist die Wahrscheinlichkeit sehr viel größer, dass wir es mit einem Mörder zu tun haben, der mindestens vier Menschen auf dem Gewissen hat.«
Roar hatte alle Mühe, sich zurückzuhalten. Er hatte lange davon geträumt, derjenige zu sein, der entscheidende Informationen verkündete. Informationen, die einem Fall eine Wende geben und einen Durchbruch bedeuten konnten.
Ich habe mit Jennifer Plåterud gesprochen …
Er konnte sich Vikens Reaktion, noch bevor er seine eigentliche Quelle bekanntgab, lebhaft vorstellen, was seinen Ambitionen, sich als Primus hervorzutun, einen entscheidenden Dämpfer versetzte.
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